„Tumor im linken Schläfenlappen. Inoperabel.“ Jean-Pierre Werner ist Arzt. Er weiß, was diese Diagnose bedeutet. In seinem Fall ist der Tumor begrenzt, doch auch das bedeutet: Chemotherapie, vielleicht Bestrahlung, Nebenwirkungen. Er muss beruflich kürzertreten. François Cluzet spielt sehr überzeugend einen Mediziner, der sich zwischen Lakonie und Zugewandtheit seit Jahrzehnten um seine Patienten kümmert. Nun müsse er selbst Unterstützung suchen, wie ihm der behandelnde Arzt und Freund im Krankenhaus rät. Macht er aber nicht, weil er immer sein eigener Herr war. Die nordfranzösische Region Île-de-France um Chaussy, die herbe Landschaft und die mitunter ebenso herben Menschen sind sein Revier. Weil sein Freund mit diesem Starrsinn rechnet, schließlich stammt Jean-Pierre selbst aus dieser Region, schickt er ihm eine Ärztin, die eines Tages ohne Ankündigung in der Praxis steht. Die selbstbewusste Nathalie ist bereits Ende 40, hat aber gerade erst ihr Studium beendet und davor als Krankenschwester gearbeitet. Jean-Pierre lässt sie anfangs ordentlich auflaufen: Er nimmt sie mit zu einem Patienten, von dem er ahnt, dass dieser die neue Ärztin nicht hereinlassen wird. Bei der nächsten Station, einem Bauernhof, wird sie von einer Horde schnatternder Gänse verfolgt. All das findet Nathalie nicht so lustig.
Regisseur Thomas Lilti hat selbst Medizin studiert und als Arzt praktiziert, vertretungsweise auch als Landarzt. Praktisch jede Filmszene atmet dieses Wissen um Handgriffe und Haltung. Obwohl Lilti bis auf wenige Ausnahmen nur mit professionellen Schauspielern gedreht hat, wirkt das Geschehen, insbesondere die Behandlung der Patienten in der Praxis oder bei Hausbesuchen lebensnah, bisweilen fast naturalistisch oder dokumentarisch und überdies in der Region verwurzelt. Solche Szenen ergänzen die Geschichte um Nathalie und Jean-Pierre, die langsam den Horizont des jeweils anderen verstehen lernen. So erfährt Nathalie, dass man Patienten besser ausreden lässt. Ein Arzt unterbreche seine Patienten alle 22 Sekunden; oft sei die Diagnose schon in den manchmal langatmigen Ausführungen enthalten.
In den eingewobenen Fakten, den Behandlungsszenen und einigen lokalpolitischen Exkursen übt Lilti viel Kritik, auch im Kleinen. Bei einem Patienten geht es etwa darum, in Würde zu Hause sterben zu dürfen und wie das im Rahmen einer ländlichen Gemeinde zu organisieren sei. Dass dies alles nicht exemplarisch wirkt, ist neben der anrührenden Erzählweise der sensiblen Figurenzeichnung und den aufmerksam inszenierten Schauspielern zu verdanken. Die Filmmusik ist ungewöhnlich, aber sehr passend, sie wird sparsam eingesetzt und wirkt besonders in den emotionalen Momenten umso intensiver. Die Inszenierung wahrt durchgängig eine Leichtigkeit und webt immer wieder amüsante Momente in die Handlung. „Der Landarzt von Chaussy“ ist eine Hommage an einen aussterbenden Beruf.