Wo war Gott, als die Nazis in Auschwitz mordeten?! Es muss gut tun, diese Frage endlich einem höheren Wesen von Angesicht zu Angesicht entgegenschleudern zu können. Erik Lensherr alias Magneto tut dies, bei den Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers, wo er einst seine Eltern verlor. Der selbsternannte Gott, an den er sich wendet, hat eine schlüssige Ausrede: Apocalypse, der erste und stärkste aller Mutanten, ruhte in den 1940ern unter dem Boden Ägyptens, wo ihn vor Tausenden von Jahren seine Gegner eingeschlossen hatten. Nun ist er auferstanden und verspricht, für die Seinen da zu sein. Damit sind die Mutanten gemeint. Die normale Menschheit dagegen habe nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bewiesen, dass sie hoffnungslos verdorben sei; deswegen will Apocalypse sie auslöschen und mit den Mutanten eine bessere Welt erbauen.
Wie letztes Jahr die Avengers mit »Ultron«, bekommen es nun also auch die X-Men mit einem höheren Wesen zu tun, das die Menschheit gewogen und für zu leicht befunden hat. Einige der Mutanten, vor allem Magneto, finden dieses Fazit gerechtfertigt und schließen sich Apocalypse an; andere – vor allem Charles F. Xavier alias Professor X – glauben an die Chance eines friedlichen Zusammenlebens und stellen sich dem Ur-Mutanten entgegen. Natürlich ergreift der Film die Partei dieser Humanisten. Trotzdem machen Regisseur Bryan Singer und Drehbuchautor Simon Kinberg deutlich, dass sie auch Verständnis für die Gegenseite aufbringen, wenn sie etwa Magneto neben seinem Auschwitz-Trauma noch einen anderen guten Grund liefern, die Menschen leidenschaftlich zu hassen.
Im Vergleich zum verschachtelten Vorgängerfilm »Zukunft ist Vergangenheit«
(fd 42 375) ist der neue »X-Men«-Teil simpel: Team X-Men stellt sich gegen Team Apocalypse, mit allem, was die Mutantenkräfte bzw. die Computeranimation hergeben. Singer, Kinberg und die Darsteller verstehen es allerdings, dieses schlichte Skelett mit so saftigem erzählerischem und inszenatorischem Fleisch zu umkleiden, dass wieder ein sehr stattlicher »X-Men«-Film heraus kommt. Vor allem ist das der Aufmerksamkeit für die Figuren zu verdanken. So wird nicht nur das Psychodrama um Eriks schwärende innere Wunden und Charles’ Ringen um seinen Freund/Feind interessant fortgeschrieben. Auch die Einführung frischer Protagonisten wie der jungen Jean Grey, Storms und des jungen Cyclops, mit denen an die ältere »X-Men«-Trilogie angeschlossen wird, ist den Machern gut gelungen – wobei vor allem Cyclops dank Schauspieltalent Tye Sheridan ein sympathisches »Teenage Angst«-Profil bekommt. Das i-Tüpfelchen sind schließlich die kurzen, aber markanten Auftritte von Wolverine und vor allem von Quicksilver: Nachdem Singer diesem bereits in „Zukunft ist Vergangenheit“ die schönste Actionsequenz des Films gewidmet hat, glänzt er hier wieder in einem spielerischen Zeitlupen-Kabinettstückchen und als coolster der Youngster-Mutanten. Last but not least amüsiert der Film auch wieder als Hommage auf ein Jahrzehnt: Nach den Sixties und Seventies ist die Handlung nun in den 1980ern angekommen, was sich nicht nur in den Frisuren und Kostümen niederschlägt, sondern auch im zeitgeschichtlichen Background, der letzten Phase des Rüstungswettlaufes im Kalten Krieg unter Ronald Reagan, und in der Wahl des Bösewichts (der Apocalypse der Marvel Comics ist ein Kind dieses Jahrzehnts).
Dass letzterer kein allzu eindrückliches Profil gewinnt, hat weniger damit zu tun, dass der famose Oscar Isaac hinter seiner Maske nicht viel Spielraum für charakterliche Vertiefungen bekommt, sondern vor allem damit, dass die Figur nur Treibstoff für Konflikte ist, die sowieso quer durch die »X-Men«-Filme zwischen den beiden Polen Magneto-Professor X und ihren jeweiligen Anhängern toben und die hier in eine neue Runde gehen: Wer hält es mit wem? Wo formen sich neue Zuneigungen oder Feindschaften, wo flammen alte Gefühle auf? Trotz seines Blockbuster-Bombasts hat die Reihe damit auch etwas vom Charme einer gut gemachten Soap Opera. Einschließlich des Versprechens, dass es immer irgendwie weitergeht mit den guten Zeiten, schlechten Zeiten. Schon deswegen hat ein Weltuntergangsagent wie Apocalypse hier nicht die geringste Chance.