Action | Türkei 2016 | 92 Minuten

Regie: Haluk Piyes

Um eine Schuld abzutragen, die er durch seine Drogensucht auf sich geladen hat, jagt ein drahtiger junger Mann mit einem Freund nachts in Istanbul Dealer. Als er eine junge Frau kennenlernt, die vor einer Zwangsheirat weggelaufen ist und nun die Wut ihrer Angehörigen fürchtet, gerät er in einen Konflikt zwischen seinen Gefühlen und dem Drang, den moralischen Verfall der Gesellschaft weiter aufzuhalten. Das düstere Drama kreist um Rachegedanken und Erlösungssehnsucht. Nicht immer frei von plakativen Vereinfachungen, macht der Film dabei in der fatalen Verbindung von Doppelmoral und der Unfähigkeit zu Mitgefühl die Ursache für fanatisches Handeln aus. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ATEŞ
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Pasha Projects
Regie
Haluk Piyes
Buch
Haluk Piyes
Kamera
Refik Çakar
Musik
Tamer Yigit
Darsteller
Haluk Piyes (Ateş) · Büsra Ayaydin (Aleyna) · Eren Hacısalihoglu (Yavuz) · Meltem Miraloglu (Atiye) · Sacide Taşaner (Hatice)
Länge
92 Minuten
Kinostart
21.04.2016
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Action | Drama

Junger Mann auf Rachefeldzug gegen Drogendealer gerät in moralischen Zwiespalt. Ein moralischer Film aus der Türkei.

Diskussion
Zwei junge Männer unterwegs auf Rachefeldzug durch die Unterwelt von Istanbul. Ateş, ein gutaussehender, drahtiger Typ in modischer Lederjacke, verprügelt nachts Drogendealer, übergießt ihre bewusstlosen Körper mit Benzin und zündet sie an. Sein Kumpel Yavuz, ein religiöser Familienvater im weiten Gewand, filmt das Ganze per Handy und stellt die Szenen zur Abschreckung ins Netz. Das ist ein ziemlich derber Anfang für einen moralischen Film. Ateş und Yavuz waren früher selbst drogenabhängig, haben Freunde und Geschwister mit ihrer Dealerei in den Tod gerissen und wollen ihr Gewissen nun offensichtlich auf ihre Art bereinigen. In Yavuz’ kleinem Taxi, mit dem er und sein Vater sich ihren spärlichen Lebensunterhalt verdienen, fahren sie durch Straßen voller Feierwütiger, Betrunkener, Bekiffter, Obdachloser, Bettler und Prostituierter – ein Bild des sittlichen und moralischen Verfalls, in dem einzig die Moschee einen Ort der Zuflucht, der inneren Einkehr, bietet. Schicht für Schicht deckt der in Köln aufgewachsene Regisseur und Hauptdarsteller Luk Piyes die Hintergründe der Protagonisten auf: in ärmlichen Verhältnissen geboren, ohne schützende Familie, inmitten von Gewalt, Missbrauch und Not. Piyes weiß, wovon er spricht: Er stammt selbst aus einem sogenannten Problemkiez, in dem er zwar jede Menge Solidarität erfahren hat, aber auch zusehen musste, wie viele seiner Freunde an Drogen kaputtgingen. Neben seinem Jurastudium arbeitete er als Streetworker, baute ein Mitternachtsprojekt auf, in dem Jugendliche aus dem Kiez gemeinsam mit jungen Polizisten Fußball und Basketball spielen. Vorbild wolle er sein, sagt Piyes, „vorleben funktioniert besser als Ratschläge.“ Für seine multifunktionale Laufbahn als Model, Schauspieler, Jurist und Regisseur gilt das ebenso wie für die Feststellung: „Das Wichtigste ist, sich nicht selbst zu beschränken. Den Mut zu finden, sich nach oben zu orientieren.“ Doch was tun, wenn der Weg nach oben im Teufelskreis aus sozialer Deprivation und gewalttätigen Rollenmodellen versperrt ist? Der von ihm selbst als Hauptdarsteller verkörperte Ateş taugt zunächst kaum als Vorbild. Menschen bei lebendigem Leib verbrennen als Akt der Gerechtigkeit? Ateş ist Sünder und Rächer in einem und kommt erst bei sich selbst an, als er Aleyna kennenlernt, die vor einer Zwangsehe geflohen ist und sich nun in Istanbul vor ihrem Bruder und dem Ehemann in spe versteckt. Von da an nimmt das Schicksal seinen Lauf: Ateş ist gefangen zwischen seinen Gefühlen für Aleyna und dem Feldzug, um seine am moralischen Verfall der Gesellschaft gescheiterten Freunde zu rächen. Ein moralischer Verfall, eine Doppelmoral, der er am Ende selbst zum Opfer fällt, erschossen von den Häschern, die „ihre“ Aleyna in seiner Wohnung vermuten. Ateş schleppt sich noch in die Moschee, um zu sterben, trifft im Jenseits aber seine Geliebte, die Selbstmord beging, um sich der Zwangsheirat zu entziehen. So beginnt „Ateş aka Feuer“ mit brachialen Rachegedanken und endet mit einem Erlösungsmotiv; dazwischen bewegt sich der Titelheld in einer Mischung aus „...denn sie wissen nicht, was sie tun“ (fd 4852) und Heiligensujet durch ein modernes Sodom und Gomorrha, ist Gerechtigkeitssuchender und Fanatiker zugleich. Ateş steht der religiösen Praxis indifferent gegenüber. Er nutzt die Moschee als Ort der inneren Einkehr, verweigert sich aber dem Gebet. In seiner Weltlichkeit steht er den Jugendlichen nahe, die der Islamische Staat für seinen grausamen Kampf rekrutiert. In seinem Weggefährten Yavuz findet er eine spirituelle Projektionsfläche. Beide bewegen sich in ihrem eigenen Kosmos, der aus Gewalt- und Benachteiligungserfahrungen gespeist wird, aber auch der jugendlichen Suche nach Gerechtigkeit. Einer Suche, die hier den Sühnegedanken als Bestrafung in den Mittelpunkt stellt. Mit ihrem „Aug um Aug, Zahn um Zahn“-Kodex glauben sie, einen inneren Kompass gefunden zu haben. Doch indem sie mit Schlagring und Video Rache an der Gesellschaft nehmen, verstricken sie sich in eine eigene Doppelmoral, werden bei aller Wut unfähig zum Mitgefühl, führen ihren eigenen Heiligen Krieg gegen das große Ganze – bis zumindest Ateş entdeckt, dass dieser Heilige Krieg gegen den Hass im eigenen Kopf und nicht gegen einen äußeren Feind geführt werden muss. Zumal zwar die Spiritualität, nicht aber die traditionalistischen Praktiken seines Freundes Yavuz wie der seiner zwangsverheiratenden Widersacher keinen Ausweg aus dem moralischen Dilemma bieten. „Ateş“ ist ein tiefschwarzer Film, nicht frei von plakativen Vereinfachungen, aber tiefgründig genug, um als Beitrag zur Auslegung des Islam ernst genommen zu werden.
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