Man kann nicht behaupten, dass Miss Shepherd ein einnehmender Charakter sei. Obgleich eine distinguierte Dame fortgeschrittenen Alters, pflegt sie ihre eigenen Vorstellungen von Höflichkeit, Bestimmtheit und Unaufdringlichkeit. Wenn es um ihre Privatsphäre geht, kann sie durchaus raue Töne anschlagen, und auch sonst ist sie nicht unbedingt die Liebenswürdigkeit in Person. Aber sie hat sich entschieden, in eine der ruhigeren Seitenstraßen in Camden Town, London zu ziehen – zumindest für ein paar Wochen.
Es ist beileibe nicht so, dass die Nachbarschaft über den Zuzug Freudensprünge machen würde, aber man hat hier in der Gegend genug Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. Zumal man hier einer politischen Kaste angehört, die als linksliberal zu bezeichnen nicht falsch wäre und die daher eine gewisse unverbindliche Offenherzigkeit gegenüber seltsamen Menschen an den Tag zu legen pflegt.
Miss Shepherd wohnt auf der Straße; in dem zunächst grauen 1957er Bedford CA-Van, mit dem sie jüngst in die Straße einbog. Der kleine Lieferwagen ist innen erstaunlich geräumig, auch wenn Miss Shepherd über die Jahre ziemlich viel Hausrat angesammelt hat.
Alan Bennett ist der wohl bekannteste Bewohner dieser Straße – neben Miss Shepherd. Als berühmter Autor klassischer Theaterstücke beansprucht er ebenfalls eine gewisse Art von Exzentrik, die sich in der typisch beiläufigen, wenn auch ein wenig versnobten Art äußert, in der man in den distinguierten Kreisen von Literaten, Linken und Tweet-Trägern anscheinend untereinander verkehrt. Bennett ist kein Mensch, der leichtfertig über andere richtet. So hat er ein gewisses Verständnis für die missliche Lage, in der sich Miss Shepherd befindet. Auch wenn er sie nicht sonderlich sympathisch findet (was auf Gegenseitigkeit beruht), lässt er den Bedford in seiner Hofeinfahrt parken, da ein Dauerparken auf öffentlichen Wegen nicht erlaubt ist.
Dass aus diesem Arrangement schließlich 15 Jahre werden sollten, war anfangs nicht abzusehen, aber auch nicht weiter verwunderlich – bei dieser Konstellation! Was in diesen Jahren alles passiert ist, umkreist Bennetts Theaterstück „The Lady in the Van“, das 1999 mit großem Erfolg auf den Londoner Westend-Bühnen aufgeführt wurde. 15 Jahre später hat sich der inzwischen 80-jährige Bennett mit dem Theater- und Filmregisseur Nicholas Hytner daran gemacht, das Stück für die Leinwand zu adaptieren. Und wer anders als Maggie Smith sollte Miss Shepherd spielen, die bereits 1999 mit dieser Rolle auf der Bühne reüssierte?
So ist also der Film „Lady in the Van“ entstanden, über eine Frau mit Geheimnissen, einen Mann mit Meriten, einen schon bald gewöhnungsbedürftig gelben Bedford und eine illustre, erstaunlich nachsichtige Nachbarschaft (wenn man an all den Müll auf der Straße denkt, vom Geruch ganz zu schweigen). Hytner hatte eigentlich nicht viel mehr zu tun, als seine von Andrew Dunn vorzüglich geführte Kamera laufen zu lassen. Alles andere stand im bewährten, mit überraschenden Twists versehenen Buch und wird von Maggie Smith, dem kaum weniger wichtigen Alex Jennings (als Bennett) und den immer wieder amüsant-skurrilen Sidekicks wie Jim Broadbent, Roger Allam und Frances de la Tour sehr britisch vorgetragen.
Für eine wahre Geschichte ist der Plot geradezu märchenhaft, wenn man an das dunkle, höchst bizarre Geheimnis von Miss Shepherd denkt oder den Gleichmut und die Sympathie, mit der die Menschen einer stinkenden alten Pennerin begegnen. Im britischen Original sind „The Lady in the Van“ und seine cleveren Dialoge eine kleine Köstlichkeit. Auch wenn ein solches Intermezzo niemand am eigenen Leibe erleben möchte, macht der Film warm ums Herz. Kleines Kino ganz groß.