Etwa 32 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,65 Metern. Damit schockierte die Französin Isabelle Caro, als sie sich von Starfotograf Oliviero Toscani aufnehmen ließ. Der nackte, ausgemergelte Körper der jungen Frau, ihre ausdrucksvollen Augen, die im Verhältnis zum knochigen Gesicht übergroß wirken, waren der Blickfang der Anti-Magersucht-Kampagne, die die italienische Modefirma Nolita 2007 lancierte. Caro, eine Schauspielstudentin, die Toscani in einem Krankenhaus gecastet hatte, wo sie wegen Anorexie behandelt wurde, erlangte quasi über Nacht eine traurige Berühmtheit.
Die Poster wurden jedoch schnell wieder abgehängt, verboten von der italienischen Werbeaufsicht wegen Verletzung der Menschenwürde. Andere Länder zogen nach. Doch das Bild und mit ihm Isabelle Caro gingen trotzdem um die Welt und nisteten sich in die Debatten rund um Schockwerbung, Magersucht und Magermodells ein. Auch die amerikanische Filmemacherin Kiki Allgeier sah das Bild, das kaum einen kalt lässt, und kontaktierte Caro, um eine kurze Dokumentation über sie zu drehen. Aus dem Kurzfilmprojekt wurde ein Langfilm, aus einem verglühenden Medienphänomen ein Mensch.
In Allgeiers erschreckendem, aber gleichwohl faszinierendem Porträt reiht sich Widerspruch an Widerspruch. Das liegt nicht nur an der Protagonistin, die auf dem Weg ist, sich zu Tode zu hungern, aber im geschützten privaten Raum ihres winzigen Pariser Appartements vor Lebensfreude und Tatendrang überschäumt. Um ihr gerecht zu werden, gießt Allgeier die multiplen Facetten von Caros Lebensgeschichte in eine Form, die ebenso zerklüftet wirkt wie die Selbst- und Fremddarstellungen ihrer Person.
Zu Beginn der bis zu Caros Tod im Jahr 2010 währenden filmischen Begleitung musste die Regisseurin Isabelle Caro versprechen, sie von allen Seiten zu zeigen und nicht ihre Krankheit in den Mittelpunkt zu stellen. Und so trägt Allgeier unterschiedlichste Materialien zusammen: Persönliche Videobotschaften, Aufnahmen von Medienauftritten, Begegnungen mit Caro backstage oder in ihrer zweckmäßig eingerichteten Wohnung, Interviews mit ihrem Vater, O-Töne aus ihrer Autobiografie, eigene Interpretationen.
Auf diese Weise geben sich poetische Annährung und klassischer Dokumentarismus die Hand. Tatsächlich schält sich daraus ein Mensch hervor, der mal wahres Ich, mal Kunstfigur zu sein scheint, vielleicht frei erfunden, auf alle Fälle streitbar und doch bewegend wahrhaftig. Das Protokoll einer Frau, deren überfürsorgliche Mutter wollte, dass sie für immer ein Kind blieb und die deshalb aufhörte zu essen, um einen kindlichen Körper zu bewahren. Die Schilderung eines liebenden Vaters, dessen Tochter eigentlich Mélody hieß und der angibt, ihre Wünsche stets ermöglicht zu haben.
Die „FEMMEfille“ aus dem Originaltitel des Films, die Frau, die ein Mädchen geblieben ist, hat in der Fantasie fortgesponnen, was die Realität nicht hergab. Eine Frau, deren Konturen nicht nur körperlich verschwinden, je mehr man über sie zu wissen versucht.
Caro, die sich als Aufklärerin über und als Warnung vor der Krankheit verstand, war als „Vorzeige-Magersüchtige“ der Medien umstritten. Ihr wurde vorgeworfen, ihren Zustand gekonnt zu vermarkten. Dass sie sich möglicherweise in ihrer Rolle gut gefiel, folgert auch Allgeier, die mit ihrem Film auf mehr als ein erschütterndes Einzelschicksal zielt. „Seht mich verschwinden“ wirft ein zum Nachdenken anregendes Dunkel über alle einfachen Erklärungen. Damit gibt der Film dem toten Modell, auch stellvertretend für andere an Magersucht Erkrankte, eine Würde zurück.