Dass Regisseur Bill Pohlad nicht das Erwartbare über „The Beach Boys“ erzählen will, macht er gleich zu Beginn klar: „Love & Mercy“ beginnt mit wirren Selbstgesprächen von Brian Wilson, blendet schwarz ab, zeigt ein Ohr in Großaufnahme, zu den immer lauter anschwellenden Tönen, und blendet erneut schwarz ab. Erst im dritten Anlauf sind dann in bunt-ausgewaschenen Farben die Bilder von Sonne, Surfern, Meer und Kalifornien zu sehen, die man mit dem Thema „Beach Boys“ assoziiert; dazu ist deren Feel-Good-Hit „I Get Around“ zu hören.
„Love & Mercy“ konzentriert sich auf die Lebensgeschichte des Beach-Boys-Masterminds Brian Wilson, insbesondere auf die Jahre seines physischen und psychischen Absturzes, seiner zweifelhaften „Therapie“ und 24-Stunden-Überwachung durch den Psychologen Eugene Landy sowie der „Rettung“ aus diesen Zuständen durch seine spätere zweite Ehefrau Melinda Ledbetter.
Dass Wilson und Ledbetter die Produktion des Bio-Pics beratend unterstützt haben, merkt man dem Film durchaus an: Elizabeth Banks als Melinda Ledbetter erscheint als attraktive, ungebrochene Heldin, die umso stärker strahlt angesichts ihres dicklichen, selbstverliebten Konterparts, dem ein totalitäres Regime befehligenden Dr. Landy.
Brian Wilson hingegen, zunächst von Paul Dano und in der älteren Variante dann von John Cusack verkörpert, erscheint als genialer Musiker und zutiefst zerrissene, verstörte Gestalt. Sie verfügt damit über wesentlich mehr Ausdruckpotenzial als die Figur der patenten Geliebten. Die etwas zu glatte und womöglich auch einseitige Darstellung von Melinda Ledbetter und ihrem Konflikt mit Eugene Landy bleibt aber das einzige Manko dieses toll ausgestatteten und viele Erwartungen unterlaufenden Musiker-Porträts, das mit einer brillanten Tonspur, der sensiblen und stimmigen Inszenierung einer beschädigten Künstlerpsyche sowie grandiosen Schauspielleistungen überzeugt.
Die in den 1980er-Jahren spielende Jetzt-Ebene des Films setzt mit der ersten Begegnung zwischen einem schwächlich, fast kindlich wirkenden Brian und der Autoverkäuferin Melinda ein: „Blau ist eine sehr ruhige Farbe“, sagt die blonde Lady im blauen Kleid, also entscheidet sich Brian für das blaue Auto. Vom ersten Moment an begibt sich der nervöse Mann, der keinen Schritt ohne seine von Landy gelenkte Entourage machen darf, ganz in die Hände der so fest im Leben stehenden Frau. Noch beim Autokauf steckt er ihr einen Hilferuf in Form eines Zettels zu: „I’m lonely, scared and frightened“, steht da; Melinda lässt sich dennoch auf ein Date ein. Kein Wunder, dass der von John Cusack hervorragend als tieftraurige, entmündigte Figur gespielte Wilson dieser furchtlos-pragmatischen Frau verfällt. Und doch wird es ein langer Kampf, bis sie ihn aus seinen Ängsten und den Fängen von Landy (er)lösen kann.
Wie es überhaupt so weit kommen konnte, zeigt der Film in Rückblenden in die drogengeschwängerten 1960er- und 1970er-Jahre: Die Zeit der großen Beach-Boys-Erfolge, die Zeit von Brians zunehmender musikalischer Experimentierfreude und seiner wachsenden Entfremdung vom Rest der Band, aber auch vom Rest der Welt. Paul Dano wirft sich ohne Rücksicht auf Verluste in die Rolle des sensiblen, begnadeten, besessenen Künstlers, der schließlich nicht mehr über „Sommer, Spaß und Autos“ singen mag, sondern stattdessen geniale (aber kommerziell erfolglose) Werke wie das Konzeptalbum „Pet Sounds“ schuf und zunehmend abdriftete, in seine eigene Welt, in seinem eigenen Kopf. Ein gemarterter Kopf, an dem – im übertragenen Sinne – alle ständig herumzerren, einschließlich der eigenen Stimmen darin.
Die Tonspur verkommt in „Love & Mercy“ nicht zum Beiwerk einer prominenten Lebensgeschichte, sondern ist mindestens ebenso wichtig wie die Bilder. Vor allem in der Arbeit zu „Pet Sounds“ oder „Good Vibrations“ kann man Wilsons Musik detailliert beim Entstehen zusehen und zuhören. Ton und Tonschnitt sind aber auch dann ganz auf der Höhe, wenn sich die Geräusche eines Abendessens in Brians hypersensiblem Kopf zur Audio-Kakophonie verdichten oder der Schlag des jähzornigen Vaters auf Brians Ohr ihm fast das halbe Hörvermögen raubt.
Ein großer Film über den nicht minder großen Sänger und Komponisten Brian Wilson, der den Versuch einer Ehrenrettung im Abspann – „Heute ist Brian Wilson als genialer Kopf anerkannt“ – absolut nicht nötig hat.