Souverän inszenierte „Adaption“ der 1839 erschienenen Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner. Die Regisseurin Isabelle Krötsch und der Schauspieler Hans Kremer begeben sich auf den Spuren des Fragments an die Originalschauplätze nach Waldersbach in den Vogesen und bringen die Dichtung vor Ort buchstäblich zum Sprechen. Die inspirierende Präsentation der literarischen „Seelenmalerei“ bleibt in der Gegenwart des nachempfindenden Schauspielers verankert, der vor der Kamera mit unterschiedlichen Herangehensweisen an und mit dem Text arbeitet. Zwei weitere literarische Texte kommentieren „Lenz“ gesellschaftspolitisch als frühen psychologischen Diskurs.
- Sehenswert ab 16.
Büchner.Lenz.Leben
Literaturverfilmung | Deutschland 2014 | 108 Minuten
Regie: Isabelle Krötsch
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2014
- Produktionsfirma
- Atelier Kremer | Krötsch
- Regie
- Isabelle Krötsch
- Buch
- Georg Büchner
- Kamera
- Herbert Stang
- Schnitt
- Herbert Stang · Volker Geis · Isabelle Krötsch
- Darsteller
- Hans Kremer
- Länge
- 108 Minuten
- Kinostart
- 26.03.2015
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Literaturverfilmung
Diskussion
„Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - So lebte er hin.“ Mit diesen Worten endet Georg Büchners nicht betitelte und unvollendete Erzählung „Lenz“ über den Aufenthalt des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz bei dem Pfarrer, Sozialreformer und Philanthropen Johann Friedrich Oberlin in Frühjahr 1778 in Waldersbach in den Vogesen, wohin sich Lenz in einer tiefen psychischen Krise in der Hoffnung auf Heilung begeben hatte.
Büchners Prosa wurde schon früh als mitempfindende „Seelenmalerei“ und „Anatomie einer Lebens- und Gemütsstörung“ bewundert und gilt als experimentelles Dokument der noch jungen Wissenschaft der Erfahrungsseelenkunde. Der kanonische Text der deutschsprachigen Literaturgeschichte beschäftigt seit jeher die Forschung; der Text diente aber auch wiederholt als Vorlage für andere Prosa-Versuche von Peter Schneider oder Volker Braun, wurde von George Moorse und Alexandre Rockwell 1970 und 1981 verfilmt und von Wolfgang Rihm als Kammeroper „Jakob Lenz“ vertont.
Man sollte meinen, dass zu dem Text alles gesagt ist, aber nicht die geringste Leistung der Neuvorlage von Isabelle Krötsch und Hans Kremer besteht darin, dem Zuschauer eine Möglichkeit zu eröffnen, sich dem Text ein weiteres Mal anzuvertrauen.
Gerahmt wird die filmische Adaption des Büchner-Textes durch ein „Vorspiel“ vor weißem Grund mit einem Ausschnitt aus Lenzens Abhandlung über Goethes „Götz von Berlichingen“, in der „Freiheit“ als „Platz zum Handeln“ bestimmt wird und die Beschreibung der Versklavung des Individuums im Räderwerk der Weltläufte durchaus den Tenor des Schlusses von Büchners „Lenz“ vorwegnimmt.
Nach diesem Vorspiel beginnt „Büchner. Lenz. Leben.“ mit den bekannten Worten: „Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg.“ Im Folgenden schält sich aus dem Weiß allmählich ein Panorama der schneebedeckten Vogesen-Landschaft heraus – der Film wurde an den Originalschauplätzen gedreht –, bis die Kamera schließlich zu einem langsamen 360-Grad-Schwenk ansetzt, als in der Prosa aus dem Off die herrschenden Naturgewalten poetisch geschildert werden. Wenn der Schwenk vollendet ist, folgt ein Schnitt auf den Schauspieler Hans Kremer, der jetzt in einem holzvertäfelten Innenraum bei Kerzenlicht den Büchner-Text laut für sich liest. Schon zuvor hatte der Vorleser in den Text eingegriffen, indem er die Stelle „ihm war manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“ einmal wiederholt – das ungewöhnliche Bild für den Zuhörer gewissermaßen unterstreichend.
Kremer wird in dem Ein-Personen-Stück, das diese Verfilmung ist, immer mal wieder die Rollen wechseln. Mal liest er den Text im Bild, mal liest er aus dem Off, mal spricht er den Text direkt in die Kamera, mal spielt er Teile notierter Dialoge, etwa das Kunstgespräch über die Mängel des Idealismus mit Christoph Kaufmann.
Die Bildebene des Films illustriert mitunter den Text, nimmt sich aber immer wieder die Freiheit, sich autonom zu verhalten – und doch auf den Text bezogen zu bleiben. Im Mittelpunkt des Films steht folglich immer Büchners Text, der hier gerade nicht zur Vorlage, sondern zum Anlass genommen wird. „Darin liegt eine Umkehrung der für Literaturverfilmungen üblichen Rangordnung der Zeichenarten“, steht im Begleitmaterial zu „Büchner. Lenz. Leben.“ zu lesen.
Wie konsequent und souverän Krötsch und Kremer über ihre Mittel verfügen, wird kurz vor Schluss deutlich, wenn das Bild wieder weiß wird und aus dem Off eine Passage aus Goethes „Werther“ verlesen wird, in der der noch nicht zum Weimarer Klassiker gewordene Schriftsteller sich positiv zum Sturm und Drang äußert – und man hinter den Worten durchaus einen wohlwollenden Kommentar über Suchende wie Lenz erkennen kann: „Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien musste.“
Nimmt man die Bemerkung des Zeitgenossen und Goethe-Freundes Schlosser hinzu, dass Lenz vielleicht weniger unter Schizophrenie denn unter „Hypochrondrie“ gelitten habe, dann könnte man auf die Idee kommen, Lenz habe 1778 in Waldersbach ein paar Szenen aus dem „Werther“ nachgespielt. Als „stille Post“ in Richtung Weimar, zwei Jahre nach dem Zerwürfnis mit Goethe. Eine Idee, angeregt durch die inspirierende und in jeder Hinsicht sehenswerte Präsentation von Büchners Text durch Krötsch und Kremer.
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