Drama | Ukraine/Niederlande 2014 | 132 Minuten

Regie: Myroslav Slaboshpytskiy

Ein junger Mann kommt in ein Internat für Gehörlose im ukrainischen Kiew. Sehr bald muss er feststellen, dass hier eine unerbittliche Hierarchie herrscht. Als er sich in eine Mitschülerin verliebt, gerät er in Konflikt mit dem ihn umgebenden System und lehnt sich schließlich mit einem vernichtenden Rundumschlag auf. Beängstigend, hinterhältig und grausam, aber auch zärtlich, elegisch und unglaublich präzise in Szene gesetzt, vermittelt der gänzlich auf gesprochene Worte verzichtende Film seltene Einblicke in eine allumfassende „Ordnung“ von Tyrannei und Ausbeutung, die als Gleichnis sowohl für die sowjetische als auch postsowjetische Zeit steht. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
PLEMYA | THE TRIBE
Produktionsland
Ukraine/Niederlande
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Garmata Film Prod.
Regie
Myroslav Slaboshpytskiy
Buch
Myroslav Slaboshpytskiy
Kamera
Walentin Wasjanowitsch
Schnitt
Walentin Wasjanowitsch
Darsteller
Grigoriy Fesenko (Sergej) · Yana Novikova (Anna) · Rosa Babiy (Svetka) · Alexander Dsiadevich (Gera) · Yaroslav Biletskiy (Makar)
Länge
132 Minuten
Kinostart
15.10.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Krimi
Externe Links
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Ein ukrainisches Internat für Gehörlose als gesellschaftliches Gleichnis

Diskussion
Die ersten Bilder dieses Films verheißen eine klassische Konstellation: Ein junger Mann mit Koffer kommt an einen ihm unbekannten Ort. Wir als Zuschauer werden ihn bei den sich nun anschließenden Erlebnissen begleiten und an seiner statt einen Erkenntnisprozess durchlaufen, so die Erwartung. Doch schon die unmittelbar nachfolgenden Szenen lassen erahnen, dass wir es hier mit einem höchst ungewöhnlichen, ja auf seine Weise einmaligen Werk zu tun haben werden. „The Tribe“ (OT: „Plemja“ = Der Stamm) von Myroslav Slaboshpytskiy ist beängstigend, hinterhältig und grausam, aber auch zärtlich, elegisch und unglaublich präzise in Szene gesetzt. Der Film wartet gleich mit mehreren „Alleinstellungsmerkmalen“ auf. Es handelt sich um das erste Langfilmdebüt aus der Ukraine, das es nach Cannes (2014) schaffte. In seinen 130 Minuten wird nicht ein einziges Wort gesprochen. Was die Charaktere verbal verhandeln, findet in ukrainischer Gebärdensprache statt, Untertitel gibt es keine. Die wichtigsten Hauptrollen sind von Laien besetzt worden, die tatsächlich auch gehörlos sind und noch nie in einem Film gespielt haben. Die mehr als zwei Stunden Erzählzeit bestehen gerade einmal aus 25 Einstellungen zwischen zwei und sieben Minuten Dauer. In dieser Spanne werden alle Erwartungshaltungen einer Heldengeschichte aus ihren Angeln gehoben und auf den Kopf gestellt. Oder ist es vielleicht umgekehrt: erleben hier in die Gegenwart reichende, historische Weichzeichnungen eine schonungslose Entblätterung? Wie früher zu sozialistischen Zeiten beginnt noch immer am 1. September, dem „Weltfriedenstag“, in den meisten Folgestaaten der UdSSR das Schuljahr, so auch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Auf dem Hof treten traditionell alle Schüler in ihren adretten Uniformen, die Mädchen mit Schleifchen im Haar, zum Fahnenappell an. Die Erstklässler werden symbolisch in die Lerngemeinschaft aufgenommen. Mitten in diese Zeremonie platzt Sergej, der junge Mann mit dem Koffer aus der Anfangsszene. Auch für ihn beginnt ein neues Schuljahr in neuer Umgebung. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein unbeschriebenes Blatt. Als ihn seine neuen Kameraden hinter dem Schulgebäude zum Entkleiden nötigen, um seinen Körper nach Tätowierungen abzusuchen, finden sie dort nicht ein einziges dieser Male. Tätowierungen sind die Zollstempel des russischen, sowjetischen und postsowjetischen Lagersystems. An ihnen lassen sich die bisherigen Aufenthalte, Strafen und Triumphe ablesen – wie wir spätestens seit David Cronenbergs „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“ (fd 38 506) wissen. Dass der Neuankömmling nichts dergleichen aufzuweisen hat, ist merkwürdig. Er ist anders als die anderen. Sehr schnell wird klar, dass wir es bei diesem Internat auch nicht um einen Hort gegenseitiger Rücksichtnahme oder gar Solidarität zu tun haben. Zunächst scheint es sich um die üblichen Hackordnungen und Initiationen zu handeln, unter denen ein Novize nun mal am stärksten zu leiden hat. Die gibt es hier auch. Doch die Machtstrukturen existieren nicht als Selbstzweck. Sie dienen einem effektiven Ausbeutungssystem, dessen Ausmaße sich Schicht für Schicht bloßlegen. Zuerst geht es um kleine Geldbeträge, Demütigungen, um Diebstahl, schließlich um Überfälle, Prostitution und Menschenhandel. Sergej bleibt nichts anderes übrig, als mitzumachen. Seine Weste bleibt nicht weiß. Doch als er sich in Anna verliebt, gerät er in irreversible Konflikte mit dem ihn umgebenden System. Emotionen sind hier nicht vorgesehen. Zuletzt lehnt er sich gegen die alles erdrückende Willkür mit einem vernichtenden Rundumschlag auf. Er verlässt das Internat, verschwindet, wie er gekommen war, im Nichts. Mit am Realismus geschulten Kriterien kommt man „The Tribe“ nicht bei. Manche Handlungsdetails gehen aus sachlicher Perspektive nicht auf. So ist kaum nachvollziehbar, warum die wenigen im Film auftretenden sprechenden Personen nie ein Wort, nicht einmal einen Laut, von sich geben. Nicht einmal, wenn sie zusammengeschlagen werden. Die Regler der menschlichen Sprache sind in diesem Film einfach alle auf Null zurückgeschoben. Sämtliche Figuren bewegen sich in einem sprachlosen Raum. Naturalismus erscheint als Trick. „The Tribe“ ist ein Märchen, wenn auch ein bitterböses. Wie in vielen russischen Volkssagen und -märchen kommt hier ein naiver Held in eine ihm elementar unverständliche Welt. Er muss Stück für Stück die Spielregeln begreifen, muss Schläge einstecken und Lehrgeld zahlen. Aber bald reift er, bewährt sich, durchläuft Prüfungen. Und hier endet dann auch die Analogie zu den klassischen Legenden. Zwar besteht Sergej sogar den letzten und härtesten aller Kämpfe, doch erschöpft sich diese Tatsache im Überleben selbst. Es gibt zum Lohn keine Prinzessin, kein Königreich, nicht einmal ein Zauberpferd, mit dem sich schneller fliehen ließe. Alle Märchen sind ausgeträumt. Um seinen Höllenkreis nachvollziehbar aufzubauen, nimmt sich Slaboshpytskiy viel Zeit. Die langen Plansequenzen führen durch die Korridore und Treppenflure des Internats mit seinen Ölsockeln und schäbigen Räumen. Die gleitenden Kamerafahrten verschaffen der Architektur des Gebäudes physische Präsenz. In allen Ecken und Winkeln stapeln sich die Artefakte aus sowjetischer Zeit. Bevor Sergej von seinen Kameraden fast totgeschlagen wird, passiert er ein Zimmer voller alter Schulbücher und Verwaltungsakten. Hier ist nichts vorbei, die Vergangenheit wuchert überall weiter. Die alten Götter amalgamieren mit denen der neuen Zeit. Und das ist die eigentlich tragische Dimension der postsowjetischen Transformation, die uns dieser Film lehrt: an die Stelle der pathetischen Proklamation großer Menschheitsideale sind übergangslos die banalen Ideale des Marktes getreten. Jeder glaubt, alles und jeden mit Geld kaufen zu können. Eine darüber hinausreichende Kommunikation scheint es nicht mehr zu geben. Es ist in diesem Kontext nur folgerichtig, dass sich im Film der Hausmeister der Gehörlosenschule als eigentlicher, geheimer König des Internats erweist. Er ist die Personifikation der Gegenwart: nach dem Wegfall der ideologischen Autoritäten hat sein subalterner und kühler Pragmatismus die Herrschaft übernommen. Bei ihm laufen alle Fäden der kriminellen Aktivitäten zusammen. Er schickt die jungen Schüler in die Züge, um dort über den Mitleidsbonus chinesischen Kitsch an Reisende zu verschachern. Er schickt auch die Mädchen auf den Trucker-Strich am Rande der Stadt und möchte sie an Bordelle in Italien verkaufen. Das kann Sergej gerade noch, auf nicht minder brutale Weise, verhindern.
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