Immer fängt es harmlos an. Doch dann scheint ein apokalyptischer Funke zu zünden und die Figuren unaufhaltsam dem Abgrund zuzutreiben. Die Ereignisse in den sechs Geschichten, die der Argentinier Damián Szifrón in seinem Episodenfilm „Wild Tales“ erzählt, folgen einer „infernalischen“ Handlungslogik. Der gesellschaftliche Abstieg des Sprengstoffexperten und Familienvaters Simon Fisher etwa, den sein Widerstand gegen einen unberechtigten Strafzettel binnen Kurzem Arbeit, Ruf und Ehefrau kostet. Als man ihm auch noch den Umgang mit seiner Tochter verbieten will, braust er auf, doch die Anwältin seiner Frau bremst ihn. Auf Gewalt bräuchten sie nicht einzugehen, empfiehlt sie ihrer Klientin, was Fisher endgültig die Beherrschung raubt. „Wo sehen Sie hier Gewalt?“, herrscht er die Frau an, doch diese hebt seine scheinbar ureigenste Wut mühelos auf eine gesellschaftliche Ebene: „Gewalt ist überall.“
Diese Szene steht nicht zufällig in der Mitte des Films, wird darin doch sein Strukturprinzip in komprimierter Form ausgesprochen. Sechsmal treibt Szifrón seine Figuren in abgeschlossenen Episoden bis an den Rand des für sie Erträglichen und lässt sie dann Vergeltung üben – ohne Rücksicht auf Verluste. Simon Fishers Demütigungen findet erst ein Ende, als er mit durchschlagendem Erfolg seine Kenntnisse als Sprengmeister gegen das Abschleppunternehmen einsetzt, das seinen Niedergang ins Laufen brachte. Durch die Gewalttat wendet sich allerdings das Blatt, was Szifrón ebenso lustvoll bis ins Absurde übersteigert, wie er zuvor Fishers Abstieg inszeniert hat.
Auch in der Mehrzahl der übrigen Episoden greift die Inszenierung den Ablauf von Erniedrigung und Vergeltung, Gewalt und Gegengewalt auf. Mit tiefschwarzen Pointen deutet er das gegenwärtige Argentinien als gespaltenes Land, in dem einige wenige Privilegierte dem großen Rest gegenüberstehen, Korruption und Willkür den Alltag bestimmen und ein aggressiver Umgang untereinander herrscht. Damit folgt der Regisseur mit seinem dritten Spielfilm einem argentinischen Kinotrend der letzten Jahre, parabelhaft von Missständen zu erzählen. So verschränkt Juan José Campanella in seinem „Oscar“-gekrönten Thriller „In ihren Augen“
(fd 40 125) eine Kriminalgeschichte aus den 1970er-Jahren mit einem bitteren Kommentar zu den unaufgearbeiteten Verbrechen der Militärdiktatur, während sich Benjamin Naishtat in „Historia del miedo“, der auf der „Berlinale“ 2014 im Wettbewerb zu sehen war, an einer parabelhaften Gegenwartsanalyse versucht. Wo Naishtat allerdings nur Plattitüden über die omnipräsente Angst und die ignoranten Reichen liefert, wirkt Szifróns Weg einer anarchischen Überzeichnung wesentlich eindrücklicher. Mit einer süffisanten Freude an Bosheiten, die an die fiesesten Einfälle der Coen-Brüder erinnern, lässt Szifrón seine Figuren ein ums andere Mal hemmungslos ihren Rachegelüsten verfallen.
Trotz wiederkehrender Elemente hält die Inszenierung dabei durchgängig die Spannung aufrecht, was neben dem virtuosen Einsatz filmischer Mittel vor allem an der geschickten Variation des Tonfalls liegt. Keine Episode gleicht der anderen: Der comic-hafte Straßenkampf zweier Rowdies hat darin ebenso Platz wie eine ätzende Attacke auf die Bourgeoisie à la Chabrol, wenn der Versuch eines wohlhabenden Mannes, eine tödliche Unfallfahrt seines Sohns zu vertuschen, in ein groteskes Geschachere um Bestechungsgelder ausartet.
Um den satirischen Querschnitt der argentinischen Gesellschaft vollauf genießen zu können, muss man freilich akzeptieren, dass die Figuren auf Exemplarität gepolt sind und damit zwangsläufig wenig Tiefe besitzen. Dementsprechend sind sie weder sonderlich sympathisch noch bemitleidenswert, und ihre Entscheidung für die Vergeltung löst keinerlei kathartischen Effekt aus. Szifrón fördert sogar bewusst die Distanz, indem er die realistische Grundierung immer wieder ins Surreale abgleiten lässt und schon in der ersten Sequenz durch das Szenario eines wahnwitzigen Racheplans gänzlich ad absurdum führt.
Dieser Auftakt, der auf eine besonders bizarre Pointe zuläuft, deutet schon an, dass der Filmemacher die Unberechenbarkeit zum wichtigsten Stilmittel erhebt. Dennoch ist es ihm sichtlich ernst mit seiner Gesellschaftskritik: Was aus der dunklen Gegenwart für eine Zukunft erwachsen könnte, zeigt Szifrón am Ende, wenn eine betrogene Braut die Demontage ihrer Hochzeitsfeier betreibt und ihrem untreuen Neugatten die finsterste aller Ehehöllen prophezeit. Auch hier dreht der Regisseur den Spieß noch etliche Male um, bevor er mit einem versöhnlichen Ausgang die logische Konsequenz zieht: Wenn Argentinien so bleibt, wie es der Film skizziert, hat es ein solches Paar auch verdient.