Norte, The End of History

Drama | Philippinen 2014 | 250 Minuten

Regie: Lav Diaz

Nach Motiven aus Dostojewskis „Schuld und Sühne“ entfaltet sich das Schicksal zweier unterschiedlicher Männer: Ein verbitterter Jura-Student begeht einen brutalen Doppelmord, für den ein ums Überleben kämpfender Familienvater ins Gefängnis muss. Geduldig beobachtend entwirft der brillante Film das Porträt einer von Klassengegensätzen geprägten Gesellschaft, in der die Nachwirkungen des Kolonialismus und der Marcos-Diktatur immer noch spürbar sind. Dabei meidet er alles Parabelhafte, weitetet sich in seinem singulären Umgang mit der Kategorie Zeit vielmehr eindrücklich zu einem radikal offenen Werk, das über das individuelle Drama ins Allgemeine weist. (O.m.d.U.; DVD-Titel: "Norte. Das Ende der Geschichte") - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
NORTE, HANGGANAN NG KASAYSAYAN
Produktionsland
Philippinen
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Wacky O Prod./Kayan/Origin8 Media
Regie
Lav Diaz
Buch
Rody Vera · Lav Diaz
Kamera
Larry Manda
Musik
Perry Dizon
Schnitt
Lav Diaz
Darsteller
Sid Lucero (Fabian) · Archie Alemania (Joaquin) · Angeli Bayani (Eliza) · Angelina Kanapi (Hoda) · Mae Paner (Magda)
Länge
250 Minuten
Kinostart
25.12.2014
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Verleih DVD
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Diskussion
Wenn von Lav Diaz die Rede ist, wird zuallererst auf die extensive Dauer seiner Filme hingewiesen. So reduktionistisch der Verweis auf dieses primäre Charakteristikum auch sein mag: Die Zeit ist in den Filmen des philippinischen Regisseurs essentiell, sie ist überhaupt erst der Rahmen, in dem sich Reichtum und Dichte an Figurenentwicklung, gesellschaftlicher Milieus und Historie, Narration, aber auch an Formen reiner Kontemplation entfalten können. Mit vier Stunden ist „Norte, The End of History“ für Diaz’sche Verhältnisse sogar eher kurz. (Nur zum Vergleich: „Evolution of a Filipino Family“ nimmt sich fast elf Stunden Zeit, um über einen Zeitraum von 16 Jahren das Leben einer philippinischen Familie während der Marcos-Ära auszumalen). „Norte“ ist nach Diaz’ längerer Schwarzweiß-Phase ein Film in Farbe und deutlich handlungsintensiver angelegt als manches andere Werk des Regisseurs, aber dennoch weit entfernt vom Regelwerk einer klassischen Narration. Basierend auf Motiven von Dostojewskis „Schuld und Sühne“, erzählt der Film parallel von zwei Männern, die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehören und deren Wege sich zunächst nicht zu berühren scheinen. Fabian ist ein verbitterter Jurastudent, der nicht mehr zur Uni geht und sich in den regen Debatten mit seinen Jura-Freunden durch Ansichten hervortut, in denen der revolutionäre Kern unaufhaltsam ins Reaktionäre kippt. Der Familienvater Joaquin sieht sich durch eine Beinverletzung vorübergehend arbeitsunfähig; seine Frau ist daraufhin gezwungen, den wenigen Besitz zu verpfänden: ein Schwein, das Kochgeschirr, Familienschmuck, an dem Erinnerungen hängen. So unterschiedlich diese Milieus sind, so unterschiedlich wird auch von ihnen erzählt: hier die intellektuelle Debattenkultur, dort der tägliche Überlebenskampf. Fabian ist der Protagonist langer, theorielastiger Gesprächsszenen in Cafés, in der Natur, auf der Straße (oft in einer einzigen statischen Einstellung gedreht), bei denen Namen und Diskursformeln im Sekundentakt fallen: Anarchismus, Existentialismus, Postmoderne, Karl Marx, aber auch konkrete Bezugnahmen auf die philippinische Geschichte wie Emilio Aguinaldo, den Präsidenten der kurzlebigen ersten philippinischen Republik, oder José Rizal, dessen literarisches Werk die philippinische Unabhängigkeitsbewegung stark beeinflusste. In wortarmen Szenen schildert Diaz hingegen das Leben von Joaquins Familie, deren Verzweifeln an der Welt ganz konkret ist. In einer Szene sieht man Joaquin eine Straße hinunterhumpeln, unter dem Arm ein paar DVDs, die er verkaufen will; wenig später steht er an einer Zementmischmaschine. Die mitleidslose Pfandleiherin Magda, die nicht nur Joaquins Familie um ihr Hab und Gut bringt, sondern auch von dem finanziell notorisch klammen Fabian regelmäßig aufgesucht wird, führt die beiden Handlungsstränge zusammen. Fabian ermordet die Frau und ihre Tochter, eine in erster Linie symbolische Tat und Umsetzung seiner extremistischen Theorie, nach der das Schlechte aus der Welt geschafft werden müsse. Joaquin aber wird für den Doppelmord belangt und muss ins Gefängnis. Fortan muss er orangefarbene Häftlingshirts tragen, auf denen „Inmate Maximum“ zu lesen ist. Während Fabian seinen Schuldgefühlen auf unterschiedliche Weise begegnet – er bricht mit den Freunden und versucht an einem anderen Ort ein neues Leben, findet Kontakt zu evangelikalen Christen, kehrt zurück und mobilisiert seine Jura-Freunde für Joaquins Fall, um schließlich erneut in die Zerstörung hinein zu treiben –, büßt Joaquin auch unter den gewaltsamen Bedingungen des Gefängnisses nicht seine Menschlichkeit und Zuversicht ein. Diaz vermeidet trotz dieser polaren Anlage der Figuren allerdings alles Parabelhafte. „Norte“ ist ein radikal offenes Werk, das dem Zuschauer nie auch nur eine These über die Welt im Allgemeinen oder die philippinische Gesellschaft im Besonderen aufdrängen will. Offen ist der Film auch in Bezug auf den filmischen Raum: Diaz filmt meist aus der Distanz, er lässt das Bild atmen und die Figuren in einer Umgebung agieren, die über den vordergründigen Rahmen des individuellen Dramas hinausweist. Etwa dann, wenn der Blick auf kleinere Handlungen am Rande des Bildes fällt, anstatt die Hauptfigur in der Umklammerung zu halten. Die historischen wie aktuellen Entwicklungen der philippinischen Gesellschaft sind stets präsent: die asymmetrischen Klassenverhältnisse, die Ausbreitung des religiösen Fundamentalismus, das Nachwirken der Kolonialgeschichte wie auch der Marcos-Diktatur. Allein der Sprachmischmasch zeugt von den unterschiedlichen historischen Prägungen. Wenn Fabian und seine Freunde debattieren, mischen sich englische Begriffe und Sätze ins philippinische Tagalog, dazwischen tauchen aber auch vereinzelte spanische Wörter auf. Als in einer Szene ein Anwalt Joaquins Frau über die Modalitäten einer Bewährung aufklärt, erwidert sie, dass sie kein Englisch verstehe. Daraufhin beginnt er noch einmal, nicht ohne erneut reflexhaft ins Englische zu springen. Auch wenn „Norte“ ganz im philippinischen Alltag verortet ist, verhält sich Diaz’ Erzählweise doch konträr zu den in Sozialdramen vorherrschenden Wirklichkeits- bzw. Elendsbeschreibungen. Trotz der drastischen Gewalt, die stets aus der Distanz und mitunter rein akustisch vermittelt wird, ist „Norte“ ein geduldig beobachtender, fast meditativer Film, der Figuren, Handlungen und Schauplätze zu einer einzigen fließenden Bewegung verarbeitet. Die am Ende stehende Levitation Joaquins ist daher nicht als Ausbruch aus der Realität zu sehen; sie ist vielmehr von Beginn an wirksam.
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