„Nymphomaniac 1“: Das ist unverkennbar Lars von Trier, und es ist Lars von Trier at his best. Ein Film, sorgfältig gefertigt, bildschön, klug. Ein Mann, eine Frau, die sich das erste Mal begegnen, ein Ausflug in die Kunst- und Kulturgeschichte. Und eine dialektische Abhandlung darüber, dass vieles – alles – bloß eine Frage des persönlichen Standpunktes ist. Es beginnt mit dunkler Leinwand, einer Geräuschspur, wie sie so auffällig präzise und leise rhythmisierend vielleicht seit „Dancer in the Dark“ nicht mehr vorkam. Die Kamera sucht tastend die Backsteinwände einer engen Gasse ab. Nacht. Schneegeriesel. Fern das Licht einer Laterne. Flüchtig im Bild eine Hand, blutverschmiert. „Geister“ hieß von Triers Mini-Serie, in der man vor 20 Jahren Ähnliches sah. Auf dem Boden, verletzt: Charlotte Gainsbourg, die auch die namenlose Protagonistin in „Antichrist“ (2009) spielte. Im Endzeitdrama „Melancholia“ (2011) hat sie eine Frau namens Claire gespielt; in „Nymphomaniac“ trägt sie nun einen Namen, der Mann und Frau zu eigen sein kann: Joe. Auch Willem Dafoe, der in „Antichrist“ ihren Ehemann gab, ist in „Nymphomaniac“ dabei, allerdings erst im zweiten Teil, ebenso Stellan Skarsgård, der in „Dancer in the Dark“ und „Melancholia“ mit dabei war: Familiär-vertraut ist das. Skarsgård heißt in „Nymphomaniac“ in Erinnerung an jüdische Vorfahren Seligman, der „Glückliche“: Er ist Atheist, belesen und gebildet, gerade auch was Konfessionen anbelangt. Die Fliegenfischerei ist seine Passion, aber auch die Musik: Bach, die Polyphonie. Dazu kommt die Weltliteratur: Edgar Allen Poe, der im Delirium Tremens den „furchtbarsten aller Tode“ fand, wie es in „Nymphomaniac“ heißt.
Seligman findet auf dem Heimweg die verletzte Joe. Keine Ambulanz, keine Polizei, bloß eine Tasse Tee will sie: großherzig-gütig der Mann, der die Fremde zu sich nach Hause nimmt. Fortan liegt Joe bei Seligman im Bett; in gewissem Sinne ist „Nymphomaniac“ ein Huis-Clos-Drama. Doch das fällt zunächst nicht auf. Denn beim Tee fordert Seligman Joe auf, zu erzählen. Sie kann, will vorerst nicht, sagt nur, sie sei eine „schlechte Person“ und „selber schuld“. Doch dann fällt ihr Blick auf einen Anglerköder an der Wand, eine „Nymphe“, mit derer Hilfe Seligman einst einen Riesenfang aus dem Wasser zog. Von der „Nymphe“ ist es nicht weit zu „Nymphomanin“ und „Nymphomanie“: Lang sei ihre Geschichte und moralisch, warnt Joe. Doch Seligman, der nicht nur Atheist, sondern – es sei aus Bewunderung für die perfekt-perfide Abgründigkeit dieser Personenkonstellation hier verraten – auch ein Asexueller ist, lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. So erzählt Joe, in diesem geschmeidig in Kapitel unterteilten Film: Vom Moment, in dem sie zweijährig ihre Scham entdeckte, bis zu dem Augenblick zwanzig lustvoll gelebte Jahre später, als sie beim Akt mit ihrer großen Liebe mit Erschrecken feststellt, dass sie „da unten“ nichts mehr fühlt. Dazwischen finden sich Episoden aus ihrem Sexual-(Er)-Leben: feuchte Kinderspiele im elterlichen Badezimmer, eine jugendlich-frivole Aufriss-Tour mit der besten Freundin, dazwischen, brachial, aber gewollt herbeigeführt, die Entjungferung: Schön waren die Hände des Moped-Jungen! Es folgen Erlebnisse einer sexhungrigen jungen Frau – die junge Joe wird überragend gespielt von Stacy Martin. Ihre einzige Sünde, sagt Joe, sei, dass sie vom Sonnenuntergang mehr erwartet habe als alle anderen. Seligman kann in ihren Ausführungen überhaupt keine Sünde erkennen. Auch in dieser, für die Kinoauswertung zurechtgestutzten Fassung von „Nymphomaniac 1“ geht es nicht ohne sichtbare Erregung ab. Doch der Lust, aus des Menschen (unschuldiger) Natur geboren, haftet nichts Perverses an. So ist „Nymphomaniac 1“, Rammsteins wunderschön-wuchtigen Song „Führe mich“ in (wenn ich mich nicht täusche) leicht abgewandelter Version als Titelsong verwendend, ein Film, abgrundtief, aber auch abgrundtief menschlich.