Was für ein Auftakt! Die ersten Minuten von „Hawaii“ gehören zum Schönsten und Eigenwilligsten, was dieses Jahr im Kino zu sehen und zu hören war. Dafür braucht der argentinische „Teddy“-Preisträger Marco Berger („Ausente“) nicht viel: die wunderbare, kristallklar dahinfließende Komposition von Pedro Irusta und den Verzicht auf Worte. Bloß ein kurzes Gespräch an der Haustür, aus dem hervorgeht, dass die Tante, die Martín in seinem Heimatdorf in der argentinischen Provinz besuchen möchte, weggezogen ist, unterbricht das Schweigen. Ansonsten sind nur die leicht sphärisch-spirituellen Klänge einer Filmmusik zu hören, die sich nicht darauf beschränkt, Bilder zu untermalen, sondern diese auf eigentümliche Weise entdramaturgisiert, sie aus dem chronologischen Erzählkontext heraus- und in einen anderen, sinnlich-emotionalen Zusammenhang hineinhebt. „Lieben“ wäre wahrscheinlich das treffende Lexem dazu.
Die einzelnen Einstellungen, in argentinische Sonne und einen Hauch von Ferien getaucht, wären für sich genommen belanglos: Zwei junge Männer werden vorgestellt, noch ehe sie einander begegnen. Martín, der Reisende, der eine Bleibe sucht, und Eugenio, der schon da ist, ganz alleine den villenartigen Landsitz seines Onkels bewohnt und im verwilderten Garten an einem Roman schreibt. Doch dann, als die beiden aufeinandertreffen, ist es vorbei mit dieser cineastischen Symphonie wie aus besten Stummfilmtagen. Und die kreative Fallhöhe erweist sich jetzt als derart groß, dass Berger den Wechsel zu einem herkömmlicheren Erzählstil mit Dialogen, Kausalketten und Spannungskurven nicht ohne Blessuren bewerkstelligt.
Martín, der angeblich nach Buenos Aires weiterreisen möchte, erkundigt sich bei Eugenio nach einem Gelegenheitsjob. Das in die Jahre gekommene Anwesen sieht so aus, als könnte es ein paar Renovationsarbeiten durchaus vertragen. Außerdem stellt sich heraus, dass die beiden Männer hier schon als Kinder miteinander gespielt und sich dann aus den Augen verloren haben. Eugenio stellt Martín schließlich ein. Und ein paar ernste, begehrliche Blicke genügen, und es ist klar, dass Eugenio an Martín vor allem auch als Mann interessiert ist. Berger inszeniert die zaghafte Annäherung der beiden in gemächlich in der Sommerhitze ausgebreiteten Tableaus. Die im Gegenlicht oder diffusen Zwielicht eines Waldes flirrenden Bilder knüpfen an die lyrische Eingangssequenz an, so wie Eugenio und Martín ihre Vergangenheit wieder aufleben lassen, wenn sie mit einem Luftgewehr auf Büchsen schießen oder beim Wettrennen ihre Kräfte messen. Dabei erweist sich stets Martín, der Bursche aus einfachen Verhältnissen, als der geschicktere, schnellere, während Eugenio – gebildet, Brillenträger – mit solchen körperlichen Niederlagen hadert. Die Konstellation ist uralt, ein klassischer schwuler Sehnsuchtsstoff. Am Rande des Klischees.
Oft gelingt es Berger zu verhindern, dass sein Film gänzlich ins Typisch-Triviale hineinkippt. Bewusst schweift er vom linearen Erzählen ab, überlässt die Bilder ein ums andere Mal dem mystischen Sog von Irustas Score. Jenseits davon aber, wenn er zum kontinuierlichen Handlungsverlauf seines Drehbuchs zurückkehrt, hat er der poetischen Atmosphäre und dem dichten, facettenreichen Spiel seiner beiden Hauptdarsteller nur wenig Substanzielles hinzuzufügen. Stattdessen droht die Liebesgeschichte zwischendurch zu einer schwülstigen Romanze zu verkümmern, die der hanebüchenen Erzähllogik eines Softsexstreifens folgt. Da beobachtet Eugenio den attraktiven Martín heimlich beim Umziehen, reicht ihm ein Handtuch unter die Dusche. Oder Martín verletzt sich bei der Gartenarbeit am Oberschenkel, sodass Eugenio ihn verarzten „muss“, seinen Kopf auf einer Höhe mit Martíns verlockend ausgebeulter Unterhose. Das ist nicht nur ziemlich plump – wohlgemerkt: dramaturgisch, nicht inszenatorisch –, sondern zeugt auch davon, dass Berger auf der Handlungsebene sonst nicht viel einfällt. Im Mittelteil zieht sich der Film unnötig in die Länge, weil er dafür, dass er vom Erzählen nicht lassen mag, letztlich zu wenig zu erzählen weiß. Am Ende aber, und nicht nur am schlichten, schönen Schluss, sondern insgesamt, dominiert jene träumerisch entrückte, zauberische Stimmung, die Berger offenbar mit „Hawaii“ assoziiert. Warum sonst hätte er seinen wunderbar sinnlich dahinflanierenden Film so nennen sollen?