Dokumentarfilm | Österreich 2012 | 100 Minuten (24 B./sec.)/96 (25 B./sec.)

Regie: Paul-Julien Robert

Auf der Suche nach seinem Vater rollt der Dokumentarist die Geschichte der „Autonomen Aktion“-Kommune von Otto Mühl "Friedrichshof" südlich von Wien auf, wohin seine Mutter Mitte der 1970er-Jahre gezogen war. Mühl, einer der radikalsten Aktionisten in Wien, hatte dort eine Gruppe von Künstlern um sich geschart, die im Lauf der Jahre auf über 600 Personen anwuchs und in mehreren europäischen Städten Ableger hatte. Zentral waren radikale Lebensprinzipien: Gemeinsames Eigentum, freie Sexualität, keine festen Paarbeziehungen. Kinder sollten kollektiv aufwachsen und hatten zu ihrem Vater keine, zur Mutter nur ein eingeschränkte Beziehung. Der Dokumentarfilm ist der sehr persönliche, dabei stets aufmerksame und hellsichtige Versuch, die Irrwege einer Generation zu ergründen, die auf der Suche nach Freiheit in diktatorischen Verhältnissen landete. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MEINE KEINE FAMILIE
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Freibeuter Film
Regie
Paul-Julien Robert
Buch
Paul-Julien Robert
Kamera
Klemens Hufnagl · Fritz Ofner
Musik
Walter W. Cikan · Marnix Veenenbos
Schnitt
Oliver Neumann
Länge
100 Minuten (24 B.
sec.)
96 (25 B.
sec.)
Kinostart
24.10.2013
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
mindjazz & Stadtkino (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Veröffentlicht am
03.10.2013 - 22:31:05
Diskussion
In den Filmtitel scheint sich ein Druckfehler eingeschlichen zu haben. Und auch der Name des Regisseurs Paul-Julien Robert klingt irgendwie unvollständig, so als müsste noch eine Clan-Ergänzung folgen. Doch die eigenwilligen Sprachgestalten haben durchaus ihre Richtigkeit; sie deuten ins Zentrum eines enorm spannenden, bei aller erzählerischen Klarheit hochkomplexen Films, indem sich der Regisseur auf eine sehr persönliche Spurensuche nach etwas begibt, das er nie hatte: Vater und Mutter, familiäre Nähe, Onkel und Tanten. Denn der stille Konzeptkünstler wuchs in der AA-Kommune von Otto Mühl im Friedrichshof auf, inmitten vieler Kinder und junger Kommunarden, aber ohne die berühmt-berüchtigten Familienbande. Mitte der 1970er-Jahre war Roberts Mutter auf den Gutshof 60 Kilometer südlich von Wien gezogen, eine der größten Kommunen Europas. Dort hatte Otto Mühl, einer der radikalsten Aktionisten in Wien, eine Gruppe von Künstlern geschart, die im Laufe der Jahre auf über 600 Personen anwuchs und in mehreren europäischen Städten Ableger hatte. Zentral waren radikale Lebensprinzipien. Gemeinsames Eigentum, freie Sexualität, keine festen Paarbeziehungen. Die Kinder sollten kollektiv aufwachsen und hatten zu ihrem Vater gar keine, zur Mutter nur ein eingeschränkte Beziehung. 1990 wurde die Kommune aufgelöst und Otto Mühl ein Jahr später wegen sexueller Nötigung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Die Kommune verstand sich als utopisches Experiment, wollte späteren Generationen durchaus aber auch Vorbild sein. Deshalb wurde der Alltag penibel mit der Kamera dokumentiert. Paul-Julien Robert montiert große Teile seines Films aus diesem Archivmaterial, so dass das alltägliche Leben im Friedrichshof sehr plastisch wird. Dagegen schneidet er die Gegenwart: Gespräche mit seiner Mutter, die Suche nach seinem leiblichen Vater, Besuche bei anderen ehemaligen Kommune-Kindern, mit denen er noch befreundet ist. Robert ordnet die radikalen Ideen der Kommunarden in den historischen Kontext ein, zeigt, wie die Ablehnung der Kleinfamilie, die mit der Erziehung eines Kindes überfordert sei, sich aus dem Versuch herleitet, mit den Verbrechen und dem Schweigen der Elterngeneration abzurechnen. Ja länger der Film aber dauert, desto größer wird der Abgrund, den er zeigt. Otto Mühl wurde im Lauf der Jahre immer stärker zu einem autoritären Diktator, der keinen Widerspruch duldete. Mit rabiaten Methoden versuchte er, die nach Wilhelm Reich so genannte „Verpanzerung“ der Kommunarden zu sprengen. Dazu gehörte vor allem die „Selbstdarstellung“, mit der das Subjekt tänzerisch zeigen sollte, wie weit es sich entwickelt hatte. Auch Kinder wurden dazu gezwungen. Sie wurden ständig bewertet, bekrittelt, bevormundet. Robert wuchs lange völlig ohne seine Mutter auf, die in der Schweiz Geld für die Kommune verdienen musste. Aus „Meine keine Familie“ wird eine hochemotionale Aufarbeitung der Verletzungen, die den Kindern auf dem Friedrichshof zugefügt wurden. Besonders die Auseinandersetzung mit der Mutter, die die negativen Aspekte der Kommune zu Beginn völlig verdrängt hat, wird zu einem für den Regisseur spürbar schmerzhaften Prozess. Umso erstaunlicher ist, dass er trotzdem nicht der Versuchung erliegt, die damaligen Geschehnisse zu Sensationalisieren. Jeder inquisitorische Gestus ist ihm fremd. So ist sein Film einerseits stellenweise beklemmend persönlich, andererseits aber auch das Porträt einer Generation, die mit den besten Absichten ein radikal neues Leben leben wollte und dabei selbst unbewusst die autoritären Muster der Eltern wiederholte. Mit seiner Dokumentation schafft Paul-Julien Robert ein berührendes, aber zugleich auch erschütterndes Dokument Zeitgeschichte.
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