Eine Jugend im Zeichen der Atombombe. „Krieg ist vorbei, ein neuer beginnt“, sang die Band Mutter geradezu prophetisch auf ihrem Album „Europa gegen Amerika“, das ausgerechnet am 11. September 2001 veröffentlicht wurde. Daran fühlt man sich erinnert, wenn man die Eröffnungssequenz von Sally Potters „Ginger & Rosa“ sieht. Der Film beginnt mit der Explosion einer Atombombe. Am 8. August 1945. Ein Kameraschwenk über ein Feld der Zerstörung ist datiert: Hiroshima 1945. Während der Zweite Weltkrieg in Asien mit einem Paukenschlag endet, der als Menetekel die nachfolgenden Jahrzehnte prägte, werden in London zwei Mädchen geboren Ginger und Rosa, deren Mütter einander bei der Geburt ganz nahe und solidarisch sind. Die Mütter bleiben befreundet, die Töchter wachsen als beste Freundinnen heran. Bis Rosas Vater verschwindet. Dann schreibt man bereits das Jahr 1962, die Kuba-Krise zieht herauf. Die Impressionen einer Jugend in England sind unterlegt mit Popmusik, erst Jazz á la Django Reinhardt, dann „Take the A-Train“ und „Telstar“ von The Tornados. Selbst britischer Instrumental-Rock’n‘Roll hält es 1962 mit der Devise: „Watch the Skies!“
Diese Eröffnungssequenz skizziert mit meisterhafter Eleganz ein Szenario, dessen Übersichtlichkeit es mit einem Brechtschen Lehrstück aufnehmen kann. Bei Sally Potter, die mit „Ginger & Rosa“ ein weiteres Mal ihre Themen „Linke Politik“, Feminismus, Liebe und Musik anmischt, ist die Klarheit des Erzählens allerdings überraschend. Die Britin, Jahrgang 1949, reüssierte 1983 mit „Gold Diggers“, einem einflussreichen Klassiker des feministischen Kinos; sie verfilmte betont originell Virginia Woolfs „Orlando“ und begeisterte mit dem poetischen East-meets- West-Liebesfilm „Yes“, dessen Figuren in Pentameter-Versen kommunizierten. Mit ihren ästhetisch wie politisch hoch reflektierten Filmen ist Sally Potter hierzulande stets ein Geheimtipp geblieben. Das könnte sich jetzt allerdings ändern, denn bei „Ginger & Rosa“ hat sie auf alle Barrieren verzichtet, um eine semi-autobiografische unterfütterte Geschichte ins Kino zu bringen. Dass der sorgfältig gemachte Film trotz aller Zugeständnisse an die Zugänglichkeit ein emotionales wie intellektuelles Vergnügen ersten Ranges ist, spricht indes Bände über den Zustand des Gegenwartskinos.
„Ginger & Rosa“ erzählt modellhaft von einer Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen, deren Kindheit und Jugend von Existentialismus, Jazz und der Angst vor der atomaren Vernichtung bestimmt wird. Die rothaarige Ginger ist ein Feuerkopf, eine Dichterin und Denkerin, die instinktiv gegen die Bombe protestieren will, während Rosa, ohnehin mehr an Jungen als an Politik interessiert, sich ebenso gut vorstellen könnte, zu beten. Die Mädchen wachsen in einem Milieu britischer Freidenker auf; Gingers Vater landete als Pazifist im Gefängnis, er publiziert anarchistische Kampfschriften und hat sich dem radikalen Bruch mit bürgerlichen Konventionen verschrieben. Dieser Bruch geht so weit, dass er eines Tages eine Liaison mit Rosa eingeht, was Ginger ihrerseits in tiefste Depression treibt. Der emotionale Höhepunkt des Films spielt vor dem Hintergrund eines Friedensmarsches zum Atomwaffenlager von Aldermaston auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise. Der Vater bereut schließlich. Ohne viele Umschweife kommentiert Potter seine männliche Larmoyanz als fiese Bigotterie eines Mannes, der sexuell Kapital aus seiner Opferrolle als Linker schlägt. Das Private ist das Politische!
„Ginger und Rosa“ handelt von einer Desillusionierung, wobei retrospektiv erzählt wird, mit allerlei Leerstellen und Zuspitzungen, aber weitgehend unter Verzicht auf illusionierendes Sozial- oder Lokalkolorit. Unvergesslich der Moment, in dem die beiden zutiefst verwirrten Mädchen zur Aufmunterung eine Single von Dave Brubeck und Paul Desmond auflegen: „Take Five“ als Seelenretter. Ein paar Jahre klingt der Soundtrack härter; die Beatlemania löst den Existentialismus ab.
Man mag bedauern, dass es dem Film etwas an Komplexität und Raffinesse mangelt, aber man kann ihn auch als Essay über die unscharfe, verklärende Erinnerung der „68er“ verstehen, als britisches Pendant zu Andres Veiels „Wer wenn nicht wir“, als Kritik an linker Larmoyanz aus der Perspektive einer Generation, die keine Nazi-Väter zum Abarbeiten hatte.