Mit dem Gesang ist es im King ist nicht ganz einfach. Während das Publikum auf der Suche nach Wohlklang zurecht auf Volumen, Timbre oder Originalität pocht, geht es im Hollywood-Musical zumeist nur um den Bekanntheitsgrad der Interpreten. Dabei haben Catherine Zeta-Jones, Daniel Day-Lewis, Hugh Jackman, Russell Crowe und Anne Hathaway vor allem eines gemeinsam: sie können allesamt nicht sonderlich gut singen, spielten sie in den jüngsten Musical-Verfilmungen aber dennoch tragende Rollen. Das kann man bedauern; zumindest, wenn man der Hollywood-Musical-Tradition anhängt, als die Singstimme von Audrey Hepburn synchronisiert werden musste, weil sie die Produzenten von „My Fair Lady“ in den Höhen nicht überzeugte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute gilt es unter den Superstars als chic, wenn man sich in Gesangsstunden quält, um dann die Songs selbst zu übernehmen.
Ein melodramatisches Revolutionsstück
„Les Misérables“ von Claude-Michel Schönberg (Musik) und Herbert Kretzmer (Libretto) gehört zwar nicht zu den ausgefeiltesten, aber dennoch erfolgreichsten Musicals der jüngeren Bühnengeschichte. Trotz geringer „Ohrwurmdichte“ besitzt es ein riesiges Plus: die gleichnamige Romanvorlage von Victor Hugo. Das literarische Werk von 1862 ist nicht nur ein Revolutionsstück, in dem sich die Unterdrückten gegen die Unterdrücker auflehnen und die Integrität jener hinterfragt wird, die die Gesetze erlassen. Es ist vor allem ein Melodram reinsten Wassers, das durch seine hochemotionalen Schicksalswendungen, Familien- und Beziehungstragödien und durch erbauliche Auflösung das Publikum zu Tränen rührt.
Deshalb nimmt es nicht wunder, dass sich nach etlichen gesangslosen Verfilmungen des Stoffes Hollywood an die Adaption des 1987 uraufgeführten englischen Erfolgsmusicals wagt. Es erzählt die Leidens- und Heldengeschichte von Jean Valjean (Hugh Jackman), der 1815 wegen eines gestohlenen Brotlaibes zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt und fortan vom drakonischen Polizisten Javert (Russell Crowe) schikaniert wird. Als gebrochener Mann kommt Valjean aus der Haft und ist als Vorbestrafter fortan vogelfrei.
Dennoch lernt er von einem Priester den Glauben an das Gute, wird reich beschenkt und avanciert unter falschem Namen zum Fabrikbesitzer und Bürgermeister. Als er verspricht, Cosette (Amanda Seyfried) großzuziehen, die Tochter einer auf den Tod erkrankten Frau (Anne Hathaway), wird er von Javert enttarnt und muss fliehen. Beide tauchen in Paris unter, wo sich Cosette in den Revolutionär Marius (Eddie Redmayne) verliebt. Während Javert die Spur der Verschwundenen wieder aufnimmt, muss Valjean erkennen, dass er Cosette nicht ewig an sich binden kann.
Zu Herzen gehende Arien
Regisseur Tom Hooper hat seine Sache gut gemacht und die dramatischen, traurigen und erhabenen Musiknummern in intime Momente sowie epische Massenszenen übersetzt, sodass die melodiösen Chorstücke, die meist mit Kampfszenen einhergehen, wirklich aufwühlen und die Arien zu Herzen gehen, vor allem wenn sie Anne Hathaway gesungen werden. Sie und Hugh Jackman verkörpern in der ersten Hälfte des Films ihre Parts atemberaubend gut und glaubwürdig, auch wenn ihr Gesang nicht ganz Profi-Niveau erreicht.
Allerding ist ein Musical deutlich mehr als eindrückliche Schauspielkunst; deshalb bleibt trotz des Star-Rummels und einem durchaus unterhaltsamen Historienspektakel insgesamt ein schaler musikalischer Nachgeschmack – und die gesteigerte Lust auf große Gefühle durch „richtigen“ Gesang.