Ein deutscher Tourist bereist jenseits der ausgetretenen Pfade des Pauschaltourismus das Okavango-Delta in Botswana. Was als entspannter Urlaub beginnt, schlägt in der Begegnung mit einer unvertrauten Natur und Kultur in eine bedrohliche Grenzerfahrung um. Der mutige Film entwickelt eine radikale Fremdheitserfahrung als eindrucksvolles physisches Kino und magisch-realistische Beschwörung des (kolonialen) "Mythos Afrika". Viele verstörende Momente und "Leerstellen" machen ihn zu einer außergewöhnlichen Kinoerfahrung. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Der Fluss war einst ein Mensch
- | Deutschland 2011 | 83 Minuten
Regie: Jan Zabeil
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Rohfilm Prod./SWR
- Regie
- Jan Zabeil
- Buch
- Jan Zabeil · Alexander Fehling
- Kamera
- Jakub Bejnarowicz
- Schnitt
- Florian Miosge
- Darsteller
- Alexander Fehling · Sariqo Sakega · Obusentswe Dreamar Manyima · Babotsa Sax'twee · Nx'apa Motswai
- Länge
- 83 Minuten
- Kinostart
- 27.09.2012
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Aus der Luft, beim Landeanflug, erscheint das Okavango-Delta in Botswana als fruchtbare, von einigen Wasserläufen durchzogene Savanne. Doch wenn der alte Fischer, den sich der junge deutsche Tourist als einheimischen „Führer“ gewählt hat, wenig später sagt: „You’re here now!“, sieht die Sache anders aus. In Wirklichkeit handelt es sich um ein riesiges Sumpfgebiet, in dem man schnell die Orientierung verlieren kann. Bereits am Abend vor der Begegnung mit dem alten Fischer hatte der Tourist in seinem Rover inmitten eines starken Gewitterregens eine Begegnung mit Kühen auf der Straße. Am nächsten Morgen liegt der Mann, der sich einmal als Schauspieler bezeichnet, fotogen rauchend und trinkend auf seinem Auto. Er beobachtet einen alten Fischer, der sich am Ufer anschickt, mit seinem Kanu auszufahren. Später streckt er sich in dem Bootaus und reagiert nicht weiter, als der Fischer sagt: „I go far!“
Der Film beginnt wie ein Urlaubsfilm, erzählt von einer Reise außerhalb des kasernierten Pauschaltourismus. Der Reisende ist auf eigene Faust mit dem Mietwagen unterwegs, erkundet die Gegend, kann sich notdürftig verständigen. Wenn eine Fähre Verspätung hat, ist das keine Grund zur Aufregung; letztlich kommt sie doch an und erfüllt ihre Aufgabe. Die Begegnung mit dem Fischer fällt in diese Kategorie von Urlaub: Man lässt sich entspannt durchs Wasser gleiten, macht ein bisschen Smalltalk und lacht, wenn der Alte am Lagerfeuer in rudimentärem Englisch vom traditionellen Verhältnis zur Natur berichtet. Anderntags hat sich die Situation grundlegend verändert: Plötzlich sieht sich der Tourist einer existenziellen Krise gegenüber. Der lässige Exotismus kippt in einen verzweifelten Kampf ums bloße Überleben im sumpfigen Flussdelta.
Was nun zu sehen ist, ist meisterliches physisches Kino. Welche Gefahren lauern in der Bodenlosigkeit? Schlangen? Nilpferde? Elefanten? Die Agonie und Verzweiflung des Protagonisten wird beobachtet, nicht bewertet oder verurteilt. Manchmal ergeben sich kleine Erfolge, dann wieder zerschlägt sich die Hoffnung. Auch das Auffinden eines kleinen Dorfs birgt keine Rettung: Die Verständigung ist schwierig, die Einwohner scheinen den Touristen zu ignorieren. Überdies hat er unwissentlich die Regeln des Umgangs mit Toten verletzt, was ihm zusätzlichen Ärger bereitet.
Zabeil hat mit einem winzigen Team gedreht, ganz nah dran, wodurch sich die mit der Unübersichtlichkeit der Situation verbundene physische Anspannung direkt überträgt. Alexander Fehling glänzt als moderner Robinson, der durch die ungefilterte Konfrontation mit der Natur und einer fremden Kultur völlig überfordert ist. Der Soundscape des Films ist von geradezu magischer Schönheit und zeugt zugleich von latenter Bedrohung. Das allein wäre für einen deutschen Kinofilm schon ungewöhnlich genug, wobei nicht unterschlagen werden soll, dass „Der Fluss war einst ein Mensch“ über einige nächtliche Szenen verfügt, die an das Finale des ungleich bodenständigeren und realitätsnäheren Films „Schlafkrankheit“ (fd 40 521) erinnern. Zabeil schlägt entschieden die Richtung eines magischen Realismus ein, an den die Mythen und Mystifikationen des „Phantom Afrika“ (Michel Leiris) andocken können. In seinem Film geht es um einen einseitigen Blick auf Afrika als „Vorstellungskomplex“, der unbewusst vielleicht sogar ein kolonialer Blick ist, eine radikale Erfahrung des Anderen, die keineswegs zivilisationskritisch gewendet wird. Im Gegenteil: Einmal sieht der Tourist in der Ferne den verstorbenen Fischer in einem Kanu vorbeigleiten – eine Fata Morgana im Fieberwahn? Oder eher ein Vorausblick auf die virulenten Vorstellungen von der Todespassage, von der die Eingeborenen erzählen? Alles in diesem Film deutet auf eine finale Katastrophe hin, die (scheinbar) aber ausbleibt. Das Happy End eines abenteuerlichen Bildungsromans? Oder soll man sich nochmals an die Regennacht des Beginns erinnern? Hat man einen langen Blick ins Totenreich geworfen? Oder war alles doch nur der Traum eines Urlaubers, der seines Club-Daseins überdrüssig ist? Glücklicherweise besitzt Zabeils radikaler Film hinreichend viele verstörende Momente und „Leerstellen“, um ihn zu einer außergewöhnlichen Kinoerfahrungen werden zu lassen. Den Reim auf das Gesehene muss sich jeder selbst machen. Je nach Temperament stehen viele Türen offen – zwischen Werner Herzog und Apichatpong Weerasethakuul.
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