Schon ihre feuerrote Mähne, die in unzähligen kleinen Locken wie ein Sturzbach über ihre Schultern fällt, reicht aus, um Merida in jeder Szene in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Eine beispiellose Haarpracht, wild und lebendig, widerspenstig und unbezähmbar, unerschrocken und atemberaubend schön – so wie Merida selbst. Die Tochter von König Fergus und Königin Elinor hat ihren eigenen Kopf, und man sieht es sofort. Als die Mutter einmal versucht, das Haar mit einer Nonnenhaube zu bändigen, springt prompt eine Locke hervor. Merida – das ist, trotz der mythischen Vorzeit, in der der Film angesiedelt ist, eine moderne Amazone, die reiten und schießen kann und den Männern hoffnungslos überlegen ist. So strahlt sie eine Dominanz aus, die ihre Attraktivität zur Verwirrung ihrer Verehrer nur erhöht.
Nein, Merida lässt sich von niemandem Vorschriften machen, und so ist das aufmüpfige Highland-Girl wenig begeistert, als seine Mutter eine Hochzeit arrangieren will. Merida soll von den Söhnen dreier wichtiger schottischer Clans denjenigen heiraten, der am besten mit dem Bogen trifft. „Ich will meine Freiheit!“, ruft Merida, und ein Blick auf die drei tumben Kandidaten gibt ihr Recht. Als geübte Bogenschützin nimmt sie kurzerhand an dem Wettbewerb teil, düpiert die Freier und reitet nach einem Streit mit der Mutter, die den Bogen ins Feuer wirft, erbost davon. Geleitet durch blauglühende Waldgeister, lässt sie sich dazu verführen, an die Tür eines urplötzlich auftauchenden Hexenhäuschens zu klopfen. Die zahnlose, hinterhältige alte Zauberin erfüllt umgehend Meridas Wunsch, ihre Mutter zu verfluchen und somit ihre strengen Ansichten zu ändern. So verwandelt sich Königin Elinor in einen riesigen, schwarzen Bären, der hilflos und stumm durch die Gegend tapst. Merida bereut den Fluch umgehend, aber sie hat nur zwei Tage Zeit, ihn rückgängig zu machen.
Mit ihrem bereits 13. Film begeben sich die Pixar-Macher auf ein Terrain, das bislang Disney besetzt hielt, und erzählen ein Märchen mit allem, was ein Märchen gemeinhin ausmacht: eine schöne, tatendurstige und schlagkräftige Prinzessin, eine böse Königin, Hexen, Flüche, Bösewichter, aber auch liebevoll umrissene Nebenfiguren, etwa Meridas kleine Drillingsbrüder, die nichts als Unsinn im Kopf haben. Mit seinen Themen um Erwachsenwerden, Mut, Selbstbehauptung und Familienzusammenhalt erinnert „Merida“ am ehesten an „Disneys Mulan“
(fd 33 412), in dem ebenfalls Geschlechterrollen und -klischees hinterfragt wurden. Auch hier geht es um die Bewährung einer starken Außenseiterin, die um Anerkennung und Aufmerksamkeit kämpft, ohne sich selbst untreu zu werden. Das Hauptaugenmerk gilt der Versöhnung zwischen Mutter und Tochter, die erst Verständnis, Toleranz und Neugier aufbringen müssen, um sich gegenseitig zu helfen. Brenda Chapman und Mark Andrews haben diese Themenkreise in einen turbulenten, witzigen und charmanten Animationsfilm verpackt. Die CGI-Bilder sind elegant und detailfreudig – allein das Generieren des roten Haares mit all seiner Fülle, den Schwüngen, Kurven, Locken und Enden, muss Hunderte von Arbeitsstunden gekostet haben. Die 3D-Effekte sind sparsam und zurückhaltend eingesetzt, die wilde Schönheit Schottlands mit seinen dunklen Wäldern und den rauen Bergen wurde mit kräftigen Farben kreiert. Bemerkenswert neben dem schönen Folk-Soundtrack des schottischen Komponisten Patrick Doyle, der das Märchen angenehm unterstützt und in einer mythischen Vergangenheit ansiedelt, ist die (im Original) gelungene Synchronisation: Kelly MacDonald spricht die Titelfigur mit breitem schottischen Akzent und verortet somit die Handlung nicht nur zusätzlich, sondern trägt wesentlich zum Humor des Films bei. (Weitere Originalstimmen: u.a. Emma Thompson als Elinor und Julie Walters als Hexe.) „Merida“ mag ein wenig die Verrücktheit oder Originalität anderer Pixar-Filme fehlen – Spaß macht das Märchen in jedem Fall.