Verblendung (2011)

Krimi | USA/Schweden/Großbritannien/Deutschland 2011 | 158 Minuten

Regie: David Fincher

Ein Journalist und eine Hackerin spüren den düsteren Geheimnissen einer großbürgerlichen schwedischen Familie nach und geraten in einen Sumpf aus Mord und Gewalt, der bis in die Nazi-Zeit zurückreicht. Weniger eine genaue Verfilmung des Kriminalromans von Stieg Larsson als ein filmisch weiter verdichtetes Remake der schwedischen Kinoadaption von Niels Arden Oplev (2009), die dank der konsequenteren und stimmungsvolleren visuellen Umsetzung sowie der klugen Gewichtung der Erzählstränge noch über diese hinausgeht. Eine ebenso spannende wie vielschichtige Reise in die Untiefen der bürgerlichen Gesellschaft. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE GIRL WITH THE DRAGON TATTOO
Produktionsland
USA/Schweden/Großbritannien/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Columbia Pic./MGM/Scott Rudin Prod./Yellow Bird Films/Film Rites/Ground Control
Regie
David Fincher
Buch
Steven Zaillian
Kamera
Jeff Cronenweth
Musik
Trent Reznor · Atticus Ross
Schnitt
Kirk Baxter · Angus Wall
Darsteller
Daniel Craig (Mikael Blomkvist) · Rooney Mara (Lisbeth Salander) · Robin Wright (Erika Berger) · Stellan Skarsgård (Martin Vanger) · Christopher Plummer (Henrik Vanger)
Länge
158 Minuten
Kinostart
12.01.2012
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Krimi | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Die Extras (DVD, BD & 2 Disk BD-Edition) umfassen u.a. einen dt. untertitelbaren Audiokommentar des Regisseurs. Die Extras der 2 Disk-Edition (BD) enthalten zudem eine Vielzahl von Featurettes, die sich mit allen denkbaren Aspekten des Films und seiner Produktionsgeschichte auseinandersetzen und sich insgesamt auf eine Laufzeit von mehr als vier Stunden erstrecken. Die 2 Disk-BD-Edition ist mit dem Silberling 2012 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Sony (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Sony (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Diskussion
Ein vor langer Zeit verschwundenes Mädchen, Korruption und Verrat, Behördenskandale, die vertuschten Nazi-Sympathien mancher Schweden. Und mittendrin zwei ungleiche Ermittler, die Licht in all dies Dunkel zu bringen wollen und dabei nicht zuletzt mit ihren eigenen Traumata wie beruflichen Problemen zu kämpfen haben: „Verblendung“, der erste Band von Stieg Larssons „Millennium“-Trilogie, ist einer der großen Bestseller der letzten Jahre, und da Hollywoods Gier nach frischen Ideen unersättlich scheint, überrascht es kaum, dass auch dieses schwedische Krimiepos nur wenige Jahre nach einer erfolgreichen einheimischen Verfilmung bereit jetzt neu verfilmt wurde. Überraschend ist es allerdings, dass der Film auch in der Hollywood-Version und trotz US-Darstellern weiter in Schweden spielt und dass sich ausgerechnet David Fincher für den Stoff interessierte. Zwar sind seit „Zodiac“ (fd 38 179) die Zeiten vorbei, in denen man von jedem Film Finchers noch eine ebenso präzise wie überraschende Deutung unserer Gegenwart erwartete, wie das einst bei „Sieben“ (fd 31 642), „The Game“ (fd 32 845) und bei „Fight Club“ (fd 33 963) der Fall war. Aber auch wenn Fincher (Jahrgang 1962) im zurückliegenden Jahrzehnt deutlich an provokativer Energie, künstlerischer Radikalität und Originalität verloren hat, ist er noch immer einer der besten und interessantesten Filmemacher seiner Generation. Tatsächlich bietet „Verblendung“ eine ganze Menge und wirkt nach kommerziell erfolgreichen, stilistisch aber recht konventionellen Werken wie „Der seltsame Fall des Benjamin Button“ (fd 39 122) und „The Social Network“ (fd 40 089) fast wie die Rückwendung zu Finchers Ursprüngen, gingen seine Filme anfangs doch immer unter die Haut. Sein Interesse galt der Erforschung des Unbewussten seiner Gegenwart; ihren unausgesprochenen Ängste und heimlichen Begierden – und der Rolle, die deren Reflexion und Analyse in diesem Unbewussten spielt. So lassen sich alle Filme Finchers auf einer Achse zwischen den Polen Gewalt und Erkenntnis verorten. Um all dies geht es auch hier. Ein eleganter Vorspann zeigt Schwarz auf Schwarz. Dunkler Lack, Leder, Gummi, ölige, in ihrer Form zunächst undefinierbare, zwischen Mensch, Tier und Pflanze changierende Körper mit einer Oberfläche, die Schuppen oder Echsenhaut ähnelt und an die abstrakte Malerei des Franzosen Pierre Soulage erinnert. Der Eindruck von Sinnlichkeit vermischt mit dem der Gefahr. Dazu läuft eine Cover-Version von Led Zeppelins „Immigrant Song“. Die Themen Verwandlung, Verpuppung und Entpuppung werden unaufdringlich, aber bildstark berührt, und man kann die Entwicklungen gleich mehrerer Figuren unter diesen Vorzeichen verstehen. Dann wird chronologisch erzählt, wie der alte Multimillionär und Familienpatriarch Hendrik Vanger den bekannten investigativen Journalisten Mikael Blomkvist engagiert, einen melancholischen Antikapitalisten, der vorzugsweise im Milieu der Reichen und Mächtigen recherchiert und deren düstere Geheimnisse zutage fördert. Durch einen verlorenen Verleumdungsprozess verwundbar geworden, soll Blomkvist unter dem Vorwand, eine Familienchronik abzufassen, den Fall von Vangers Nichte Harriet recherchieren, die vor über 40 Jahren spurlos verschwand. Dazu zieht er auf die Privatinsel des Vanger-Clans – eine eiskalte Hölle im hohen Norden. Im Zuge seiner Ermittlungen beginnt Blomkvist die Zusammenarbeit mit der jungen Privatermittlerin Lisbeth Salander, einer vielfach gepiercten Hackerin mit Punk-Outfit. Parallel zu Blomkvists ersten Recherchen schildert der Film Salanders Schicksal: von der wiederholten Vergewaltigung durch den Vormund, an dem sie alttestamentarische Rache nimmt, von diversen Kindheitstraumata, die erst in den nachfolgenden Romanen aufgelöst werden. Beider Fähigkeiten ergänzen sich, mit Salander gelingt der Durchbruch und die Entdeckung mehrerer Kapitalverbrechen: Die Ermittler kommen einer Mordserie auf die Spur, der seit den 1940er-Jahren Frauen zum Opfer fielen. Bald tritt ein antisemitischer Hintergrund zutage. In mancher Hinsicht nimmt „Verblendung“ Motive von „Sieben“ und „Zodiac“ auf: Ein Serienmörder wird gejagt, zwei ungleiche Ermittler sind auf seiner Spur und setzen sich mit den Zeichen auseinander, die der Mörder halb mit Absicht, halb unfreiwillig hinterließ. Im Gegensatz zu „Zodiac“, in dem Fincher vor allem die radikal-skeptische Behauptung illustrierte, dass Wahrheit nie gefunden werden kann, scheint er hier wie in „Sieben“ optimistischer gegenüber der Möglichkeit von Aufklärung. Ort der Suche ist nunmehr das Internet als die Bibliothek; als Mittel der Erkenntnis werden die Bilder gegenüber den Texten (der einzige, der eine Rolle spielt, ist das Alte Testament) klar privilegiert. Ein guter Detektiv muss nicht mehr wie bei Eco (und „Sieben“) die klassischen Texte kennen, sondern genau und immer wieder hingucken, „bis die Bilder sprechen“, mit ikonografischem Scharfsinn entschlüsseln, was sie „sagen“. Dieser Aufklärer liest keine Bücher, sondern schaut Bilder an, arbeitet mit Fotografien und neuen Techniken ihrer Bearbeitung – der „Visual Turn“ hat sich also auch im Serienmörder-Thriller vollzogen. Schon Niels Arden Oplevs Verfilmung (fd 39 496) straffte den Roman und stellte verschiedene Handlungselemente um. Fincher hält sich an diesen Film, nicht an die Buchvorlage, insofern ist „Verblendung“ eher ein Remake als eine Neuverfilmung. Im Vergleich zu Oplev erzählt Fincher einige Dinge logischer, stringenter. Seine Farbpalette ist pastellig, dunkel und dezidiert europäisch anmutend; ein heller Noir aus dem Schnee. Alles in allem ist Finchers Version visuell konsequenter, einfallsreicher und eindringlicher. Zudem profitiert sie vom exzellenten Auftritt Rooney Maras als Lisbeth Salander, die den von Noomi Rapace noch überragt: ein Instinktwesen, hart und zugleich ungemein verwundbar, eine erotisch aktive Cyber-Porn-Figur und Rächerin, die im selben Moment immer eine Gezeichnete ist, ein Opfer – ohne dass das eine das andere erklärt oder gar rechtfertigt. Dagegen war Michael Nyqvist seinerzeit interessanter als der konventionell und passiv bleibende Daniel Craig. Finchers Interesse an der Dialektik von moralisierender Gesellschaft und moralischer Verderbtheit, an der Verschlungenheit von Gut und Böse führt dazu, dass er die Handlung nicht sentimentalisiert, sondern dass er sich auf die Grausamkeit, den grundsätzlichen Pessimismus und die emotionale Achterbahnfahrt der Vorlage einlässt, gelegentlich gar mit den Augen des Voyeurs auf sie blickt. Fincher ist der perfekte Regisseur für diesen Stoff. Er reichert ihn noch an, gleicht seine Schwächen aus, indem er die Handlung musikalisch-rockig erzählt. Das führt auch dazu, dass er jenen untergründigen Erzählstrang, der dem schwedischen Faschismus gilt, nicht unterdrückt. Im Gegensatz zur schwedischen Verfilmung fallen die Namen bekannter schwedischer Nazi-Größen wie Sven Olof Lindholm, Peer Engdahl und Birger Furugard, und Hendriks alter Nazi-Bruder sagt den Satz: „Warum die Vergangenheit verstecken? Ich bin der ehrlichste Mann Schwedens.“ Die Söhne waten in jeder Hinsicht in den Fußstapfen ihrer Väter. Der Film bewahrt damit die These des Buchs, dass die bürgerliche Gesellschaft im Kern eine faschistische Gesellschaft ist. Trotzdem, und dies liegt wohl an der Vorlage, geht der Film nicht ganz so weit, wie Fincher schon in anderen ging. Der Zuschauer bleibt am Ende auf der sicheren Seite. Dabei besitzt gerade Fincher die Fähigkeit, dem Publikum mehr zuzumuten als die meisten seiner Kollegen, und ihm etwas über sich selbst zu lehren. Immerhin widerlegt Fincher jene, die glauben, er ästhetisiere Gewalt oder vertrete eine konservative, gar reaktionäre politische Agenda: Seine Helden sind Anarchisten, die ihre Informationen als Hacker und Internet-Piraten gewinnen. Ausgerechnet zwei Outlaws vollstrecken am Ende das Gesetz.
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