Das traurige Leben der Gloria S.

- | Deutschland 2011 | 75 Minuten

Regie: Ute Schall

Eine nur wenig erfolgreiche Schauspielerin einer Off-Theatertruppe lässt sich von einer weit erfolgreicheren Filmregisseurin casten. Diese sucht Protagonisten für eine Dokumentation über die Lebensumstände alleinerziehender Mütter. Das Inszenieren der "harten Realität" erweist sich als eher kontroverses Projekt. Klug und ironisch-komisch dekonstruiert der Film die Authentizitätsbehauptungen einschlägiger Fernseh- und Kinoformate und spielt raffiniert mit der spannungsreichen Wechselbeziehung von Filmenden und Gefilmten. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Schall-Groß/Achtfeld
Regie
Ute Schall · Christine Groß
Buch
Ute Schall · Christine Groß · Anna Kremser
Kamera
Hannes Francke
Musik
Roman Ott Quartett
Schnitt
Silke Gräf · Ute Schall
Darsteller
Christine Groß (Gloria Schneider) · Nina Kronjäger (Charlotte Weiß) · Margarita Broich (Margarete) · Susan Todd (Susan) · Sean Patten (C.P.)
Länge
75 Minuten
Kinostart
12.01.2012
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Längst ist die Vorstellung einer prinzipiellen Differenz zwischen Spiel- und Dokumentarfilm obsolet. Eisenstein hat einmal gesagt, ihn interessiere diese Unterscheidung gar nicht, weil er nicht an der Wirklichkeit, sondern an der Wahrheit interessiert sei. Dass die Dinge in Zeiten von „scripted reality“ und „mockumentaries“ etwas komplizierter sind, zeigt auf unterhaltsame Weise „Das traurige Leben der Gloria S.“. In dieser „extended Version“ des Kurzfilms „Ich muss mich künstlerisch gesehen regenerieren“ (2010) treiben die beiden Filmemacherinnen Ute Schall und Christine Groß die Konfrontation zweier Szenen (Theater/Film) und zweier Haltungen (dokumentarisch/fiktiv) auf die Spitze. Gloria Schneider ist eine nicht mehr ganz junge, unter prekären Umständen lebende, mäßig talentierte Schauspielerin, die ihre Träume von Kreativität notgedrungen im vom Publikum kaum noch wahrgenommenen Off-Theater auslebt. Der mangelnde künstlerische wie ökonomische Erfolg trübt die Stimmung innerhalb der Truppe erheblich. Über fehlenden Erfolg kann sich die Filmemacherin Charlotte dagegen nicht beklagen; gerade erst wurde ihr sehr emotionaler Spielfilm „Die Terroristin“ über Ulrike Marie Meinhof von Kritik und Publikum bejubelt. Doch dieser Erfolg steht in spürbarem Widerspruch zum politischen Anspruch an die eigene Arbeit. Mit einer dokumentarischen Arbeit über die Lebensumstände allein erziehender Mütter will sich Charlotte aus der künstlerischen Krise hangeln: ganz kleines Team, wenig Budget, knallharte Realität. Doch mit der knallharten Realität hapert es schon bei der Kontaktaufnahme, weshalb Charlotte lieber den vertrauten Weg der Spielfilm-Regisseurin einschlägt: Die Realität wird gecastet. Hier nun kommt Gloria ins Spiel, die beim Casting überzeugt und den Zuschlag für die Hauptrolle bekommt. Mit einfachsten Mitteln etablieren die beiden Filmemacherinnen eine komplexe Konstellation, aus deren Wiedererkennbarkeit sie nach Belieben komödiantisch-satirische Funken schlagen. Das Filmteam und die Schauspieler inszenieren „Realität“ nach jeweils eigenen Vorstellungen und zudem gemäß dessen, von dem sie glauben, dass es vom Gegenüber oder den Zuschauern nachgefragt wird. Nach und nach bringt Gloria, die sich eine schillernde Biografie ausfabuliert, (fast) ihre komplette Theatertruppe beim Film unter. Was dem Filmteam um Charlotte, das keinen blassen Schimmer vom Leben hat, gerade in seiner haarsträubenden Klischeehaftigkeit als authentisch erscheint: „So etwas“, heißt es einmal, „kann man eben nicht inszenieren!“ Schnell stoßen alle Beteiligten an ihre Grenzen: Weil Gloria ihrer Biografie genügen muss, ist sie immer wieder gezwungen zu improvisieren, wobei sie selbstverständlich zu Mitteln greift, die sie vom Theater kennt. Wobei die Schauspieler früher oder später anfangen, über die Wirkung all des (ausgedachten) Elends beim Zuschauer nachzudenken, und positive Akzente setzen. Was nun wiederum Charlottes sehr konkrete Vorstellung von Authentizität reizt; und weil der Kameramann seine vom Spielfilm kommende Kunstfertigkeit nicht lassen mag, wird am Set geprobt und experimentiert: ein bisschen Hitchcock, ein bisschen Pennebaker. Von Postproduktion, Montage und Musik gar nicht zu reden! Weit über die Schmerzgrenze des bloß Komischen hinaus, zeigt „Das traurige Leben der Gloria S.“ sehr präzise, wie selbstreflexiv dokumentarisches Arbeiten heutzutage zu sein hat, um politischen Ansprüchen auch nur ansatzweise genügen zu können. Empathie zu den Figuren und eine ungefähre Vorstellung vom Leben reichen nicht hin. Was der Film konsequent und durchaus boshaft ausformuliert, die Beziehungen zwischen dem Filmteam und jenen, die gefilmt werden, sind letztlich immer Machtbeziehungen, die spontan nur von einer Seite aufgekündigt werden können. Am Ende steht dann folgerichtig der künstlerische Triumph Charlottes bei der „Berlinale“-Premiere – könnte man meinen. Aber es empfiehlt sich, im Kino bis zum Ende des Abspanns sitzen zu bleiben: Nach den Titeln erlaubt sich der Film eine letzte Volte, einen Blick in die Zukunft, die man sich so pragmatisch nicht vorgestellt hätte. Nach reaktionärem Polit-Melodram und künstlerisch wertvollem Pseudo-Dokumentarismus hält der deutsche Film immer noch eine letzte Option bereit: die der Literaturverfilmung.
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