Ein Zwölfjähriger will sich nicht damit abfinden, dass ihn sein Vater ins Kinderheim abgeschoben hat. Voller Wut und Verzweiflung fährt er ihm auf seinem Fahrrad hinterher und bettelt darum, dass ihn der Vater wenigstens ab und an anrufe. In seiner Bedürftigkeit lässt er sich wahllos von Fremden helfen. Dabei gerät er an eine Friseurin, die sich seiner annimmt und ihm auch dann beisteht, als er auf die Versprechungen eines Straßendealer hereinfällt. Ein leises, genau beobachtetes und bis in die Einzelheiten hinein kunstvoll verdichtetes Sozialdrama, das gleichwohl bodenständig von der Erfahrung einer unbedingten Liebe handelt und mit der Aussicht auf Glück belohnt.
- Sehenswert ab 12.
Der Junge mit dem Fahrrad
Drama | Belgien/Frankreich/Italien 2011 | 87 Minuten
Regie: Jean-Pierre Dardenne
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Filmdaten
- Originaltitel
- LE GAMIN AU VÉLO
- Produktionsland
- Belgien/Frankreich/Italien
- Produktionsjahr
- 2011
- Produktionsfirma
- Les Films du Fleuve/Archipel 35/Lucky Red
- Regie
- Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
- Buch
- Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
- Kamera
- Alain Marcoen
- Schnitt
- Marie-Hélène Dozo
- Darsteller
- Thomas Doret (Cyril) · Cécile de France (Samantha) · Jérémie Renier (Guy Catoul) · Fabrizio Rongione (Buchhändler) · Egon Di Mateo (Wes)
- Länge
- 87 Minuten
- Kinostart
- 09.02.2012
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
Der Titel des neuen Sozialdramas aus dem Hause Dardenne ist natürlich nicht zufällig gewählt. Assoziationen an den neorealistischen Klassiker „Die Fahrraddiebe“ (fd 1272) oder Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (fd 8514) bleiben nicht aus bei einem zwölfjährigen Heimkind als Held, der unentwegt auf dem Fahrrad eine Vorstadt verunsichert und verzweifelt um sein Überleben kämpft. Sein Vater, mit Jérémie Renier nach „Das Kind“ (fd 37 333) zum zweiten Mal von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne als verantwortungsloser Soziopath besetzt, schiebt ihn in eine Jugendanstalt ab und verlässt ohne Nachfolgeadresse die Wohnung. Der Sohn rebelliert mit Wut und Unglauben, nicht zuletzt, weil der Vater vor seinem Verschwinden das geliebte Fahrrad des Jungen verkauft haben soll. Bedrängt von Pädagogen, versucht er sich so lange am Ausbruch, bis ihm die ungewohnt ruhige Kamera bei seiner sommerlichen Irrfahrt in einem unübersehbar roten T-Shirt folgt, auf der Suche nach seinem Erzeuger und zur Not auch mit Hilfe von Fremden, die er in seiner Liebesbedürftigkeit wahllos anzunehmen bereit ist.
Erzählt in vertrauten elliptischen Kreisbewegungen und unter Verzicht auf psychologische Erklärungen, wagen die sonst auch dramaturgisch radikal asketisch agierenden Milieumeister diesmal die Feier des erlösenden Zufalls. In höchsten Krisenmomenten scheuen sie sogar den Einsatz von Musik nicht. Immer wieder klingt das Adagio von Beethovens fünftem Klavierkonzert an – wenn auch nur in homöopathischen Dosierungen. Der Junge stolpert auf der Flucht über eine mitfühlende, schöne und zugleich abgeklärte Friseurin. Gespielt wird sie von Cecile de France, in Frankreich ein Star und damit eine weitere Veränderung im bisher gewollt spröden, von Laien oder unbekannten Schauspielern bevölkerten Kosmos der Dardennes. Trotz des notorisch versteinerten Gesichtsausdrucks der wunderbaren Entdeckung Thomas Doret nimmt sich die Ersatzmutter des Ausreißers an und lässt ihn auch nach dem erfolglosen Treffen mit dem Vater an den Wochenenden bei sich wohnen. Damit ist seine akute Notsituation allerdings noch nicht bewältigt. Ohne einen Sinn für charakterliche Nuancen sucht ihr Schützling zugleich die Nähe zu einem Zuneigung vorheuchelnden Dealer, der ihn skrupellos in seine Geschäfte verwickelt. Hin und her gerissen zwischen seinen beiden „Schutzengeln“, wählt er den falschen Propheten. Als er in dessen Auftrag bei einem Überfall gewalttätig wird und Verletzte zurücklässt, ist es erneut seine Wohltäterin, die ihn auf die Wache begleitet und ihm bedingungslos ihren Schutz anbietet.
Dass sie es zu dem Preis tut, im Gegenzug den eigenen Freund zu verlieren, ist nur konsequent, glaubt man doch längst, in ihr eine überirdische Fee zu erkennen, die sich in ein seltsam temperiertes Melodram verirrt hat.
Auch wenn der inzwischen neunte Film der Belgier Richtung konventionelleres Erzählkino tendiert und die dokumentarische Machart nicht mehr offensiv herausstellt, enthält dieses Märchen um die potenzielle Option des Glücks genug unerbittliche Zwischentöne, um das erleichterte Durchatmen von einer Sekunde auf die andere in einen Asthmaanfall zu verwandeln. Kein Meisterwerk, aber wegen der sanften Metamorphose der eigenen rigorosen Vorgaben ein warm brennendes Antidotum gegen die Zumutungen des Lebens.
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