Gesehen hat sie schon lange niemand mehr, doch wenn Shos Großmutter von den alten Zeiten erzählt, spielen die Borger, geheimnisvolle kleinen Menschen, immer wieder eine wichtige Rolle. Einst hatte man ihnen sogar ein wunderschönes, detailverliebtes „Puppenhaus“ gebaut, in der Hoffnung, sie würden dort einziehen und glücklich neben ihren großen Ebenbildern leben. Doch die Realität sah anders aus: Die Menschen haben ihre kleinen, unter den Dielen lebenden Pendants durch ihre Neugier und ihre Aufdringlichkeit vertrieben. Das Puppenhaus steht schon lange leer und verlassen im Schlafzimmer des kränklichen Jungen Sho, der sich im einsam am Waldrand gelegenen Anwesen seiner Verwandten für den nahen Eingriff am Herzen erholen soll.
Schon bei seiner Ankunft meint der Zwölfjährige, etwas Sonderbares zu sehen, das ansonsten nur die schwerfällige Katze des Hauses bemerkt und zu jagen versucht: Der Abend von Shos Ankunft ist nämlich genau der Zeitpunkt, an dem die tatendurstige junge Borgerin Arrietty zum ersten Mal in die gefährlich-fremde Wohnung der großen Menschen schleichen soll, um von ihrem Vater in die Kunst des „Borgens“ eingeführt zu werden – so nennen die Borger das Erbeuten von Lebensmitteln und anderen nützlichen Dingen, deren Fehlen den Großen normalerweise gar nicht auffällt. Arrietty ist dabei jedoch etwas unvorsichtig und wird von Sho erspäht. Als er sie bei einer anderen Gelegenheit erneut erblickt, spricht er das kleine Wesen direkt an. Während das Mädchen von der freundlich-fragilen Erscheinung des Jungen fasziniert ist, sehen Arriettys besorgte Eltern in ihm lediglich ein Alarmzeichen: Sie halten den Zeitpunkt der Abreise vom Anwesen von Shos Großmutter für gekommen. Zumal deren misstrauische Haushälterin dicht davor ist, das Versteck der Borger zu entdecken. „Arrietty – Die wundersame Welt der Borger“ ist die erste Regiearbeit Hiromasa Yonebayashis, doch ein Anfänger ist der japanische Trickfilmer keineswegs: Für das berühmte Ghibli-Animationsstudio zeichnete er für „Prinzessin Mononoke“
(fd 34 790) die „Inbetweens“, und bei „Chihiros Reise ins Zauberland“
(fd 36 002) beaufsichtigte er die gesamte Animation. Es erscheint konsequent, dass ihn Studiochef Hayao Miyazaki für „Arrietty“ (zu dem er das Drehbuch schrieb) als Regisseur verpflichtete. Die Handlung, frei gestaltet nach den „Borger“-Kinderbüchern von Mary Norton, ist in der formalen Figurenzeichnung nicht ganz so naiv wie zuletzt noch bei „Ponyo – Das große Abenteuer am Meer“
(fd 40 057), Miyazakis jüngstem Film, für den Yonebayashi als Chefzeichner fungierte; dennoch orientiert sich das Charakter-Design in seiner schlichten 2D-Schönheit eng an den weniger aufwändigen Fernseharbeiten des Studios. Dafür begeistern einmal mehr die Hintergrundzeichnungen mit „verwunschenen“ Naturdetails und fantasievollen Dekors in den Häusern der Menschen. Miyazakis Drehbuch erzählt seine charmante Geschichte mit harmlosen Zuspitzungen, sodass gerade die jüngsten Kinozuschauer bestens unterhalten werden. Für sie ist in erster Linie auch die Botschaft gedacht, dass man allem Lebendigen mit Respekt begegne und es nach der jeweiligen Façon glücklich werden lassen soll.
Schade ist, dass der deutsche Verleih auf jedes Marketing für den Film verzichtete und damit (nicht zum ersten Mal) einen japanischen Trickfilm quasi unter Ausschluss der Zuschauer im Kino verwertet, um ihn alsbald auf die wohl lukrativere Schiene der digitalen Heimkino-Medienverwertung zu schieben. Das hat Filmkunst dieser Qualität, die erst auf der Kinoleinwand aufblüht, nicht verdient.