- | Großbritannien 2010 | 129 Minuten

Regie: Mike Leigh

Ein Jahr im Leben eines in die Jahre gekommenen, gut situierten britischen Paars aus der Mittelschicht, dessen gastfreundliches Haus Anlaufstätte für diverse weniger zufriedene Freunde ist, woraus sich teils komische, teils tragische Verflechtungen ergeben. Mike Leighs gemeinsam mit den Schauspielern mittels Improvisation ausgearbeitete Alltagsstudie befasst sich mit den Bedingungen von Zufriedenheit und Lebensglück bzw. dessen Scheitern und fasziniert durch ihren ungeschönten, gleichwohl nie entblößenden, sondern stets Anteil nehmenden Blick auf ihre lebensvollen Figuren. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ANOTHER YEAR
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Thin Man Films/Simon Channing Williams Prod./FILM4/Unititled 09/UK Film Council
Regie
Mike Leigh
Buch
Mike Leigh
Kamera
Dick Pope
Musik
Gary Yershon
Schnitt
Jon Gregory
Darsteller
Jim Broadbent (Tom) · Ruth Sheen (Gerri) · Oliver Maltman (Joe) · David Bradley (Ronnie) · Martin Savage (Carl)
Länge
129 Minuten
Kinostart
27.01.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Prokino (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Prokino (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Ein Jahr im Leben eines älterebn britischen Paars aus der Mittelschicht, dessen gastfreundliches Haus Anlaufstätte für diverse weniger zufriedene Freunde ist. Eine warmherzige Alltagsstudie um die Bedingungen von Lebensglück.

Diskussion
„So geht das schon ein ganzes Jahr?“, fragt die Ärztin ihre Patientin, die über Schlaflosigkeit klagt, ein Rezept für Schlaftabletten verlangt und keinesfalls über ihre wirklichen Probleme reden will. Diese verhärmte, verschlossene Frau ist das erste Gesicht in Mike Leighs „Another Year“ – ein Kurzauftritt für die hier großartig verkniffene Imelda Staunton, die bereits in der Titelrolle von Leighs „Vera Drake“ (fd 36 898) tief beeindruckte. Zwar verschwindet sie schnell aus dem Film, doch ihre zwei Szenen deuten an, wo es lang geht im Frühling, Sommer, Herbst und Winter eines Jahres, das den zeitlichen Rahmen bildet für Mike Leighs Episoden um ein älteres Paar der englischen Mittelklasse. „Another Year“ kreist um die Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit und auch darum, dass die einen sie finden, während die anderen sich rastlos danach sehnen. Es geht um das Talent zum Älterwerden der einen und die Unfähigkeit der anderen, ihre knapper werdende Zeit mit Sinn zu füllen. Es wird geschwiegen, geduldig zugehört, gejammert und geplappert in diesem Film, dem dennoch nichts Geschwätziges anhaftet. Einmal mehr hat Mike Leigh, der große Realist des Kinos, sein Ensemble auf das Abenteuer mitgenommen, die Handlung Szene für Szene erst beim Drehen zu entwickeln. Herausgekommen ist ein Film, so echt, dass man sich zu Tom und Gerri an den Gartentisch setzen möchte. Das glücklich miteinander gealterte Londoner Ehepaar (Jim Broadbent und Ruth Sheen) bildet den ruhenden Pol von „Another Year“. Sowohl Tom als auch Gerri sind noch berufstätig, und beider Arbeit hat, sicher kein Zufall, mit Zeitschichten und Beobachtung zu tun: Tom überprüft als Geologe den Untergrund für Bauprojekte, die Psychotherapeutin Gerri versucht behutsam, an die verdrängten Erinnerungen ihrer Patienten heranzukommen. Die beiden sind weniger agierende denn reagierende Charaktere, dafür steht auch ihr Schrebergarten, den das Paar im saisonalen Lauf hegt und pflegt. Ihr 30-jähriger Sohn Joe scheint ein gutes Stück Gelassenheit von den Eltern geerbt zu haben, aber im Freundeskreis häufen sich die Hochzeiten, während Joe die Richtige noch nicht über den Weg gelaufen ist. Auch das ist für Tom und Gerri kein Anlass für bohrende Fragen. Für den restlichen Besuch, den das gastfreundliche Paar in ihr Häuschen lädt, gilt dieselbe Zurückhaltung: Man hat ein offenes Ohr, quetscht niemanden aus und hält sich mit so genannten guten Ratschlägen zurück. Nur können sich weder Tom noch Joe kleine Sticheleien verkneifen; für ihren trockenen britischen Humor möchte man sie oft umarmen. Hätte sich Mike Leigh selbst wiederholen wollen, hätte er den hohen Beglückungsfaktor seines vorherigen Werks „Happy-Go-Lucky“ (fd 38 794) auf „Another Year“ übertragen – die lebenslustige Poppy, Hauptfigur des Vorgängerfilms, böte sich hier durchaus als Schwiegertochter des fröhlichen Seniorenpaars an. Allerdings schleppen Verwandte und Bekannte manches Sorgenpaket ins Haus: Ken (unerreichbar unbeholfen: Peter Wight) ist ein alter Freund des Paars, der sich mit Kartoffelchips und Gerris Küchenkreationen an den Rand des Herzinfarkts frisst und seinen Altersfrust mit Wein herunterspült. Ebenso dem Alkohol zugetan ist Gerris Freundin und Kollegin Mary (verstörend verstört: Lesley Manville), hinter deren Redeschwall belanglosen Inhalts eine schreckliche Einsamkeit hervorschimmert. Die etwa 50-Jährige wird zur heimlichen Hauptfigur, zum tragikomischen Zentrum des Films. Manchmal wirkt Mary wie eine Vampirin, die das Lebensglück anderer am liebsten aufsaugen möchte. Vielleicht nur deshalb hat sie ein Auge auf den weit jüngeren Joe geworfen. Was in einer kurzen Haustür-Begegnung im Frühling erstmals offenbar wird, weitet sich während einer Grillparty im Sommer zum peinlichen Flirtversuch aus. Joe fühlt sich bedrängt, während der sturzbetrunkene Ken seinerseits – vergeblich – Chancen bei Mary wittert. Als Joe eines schönen Herbsttags die Eltern mit seiner neuen Freundin (sprühend: Karina Fernandez) überrascht, reagiert die zufällig aufkreuzende Mary auf das turtelnde Paar derart giftig, dass es zum Bruch mit Tom und Gerri kommt. Im Winter taucht Mary wieder auf, ein Schatten ihrer selbst. Mit versöhnlicher Geste wird ihr ein Platz am Familientisch angeboten. Das abschließende ambivalente Bild isoliert Mary im Close-Up, während die Tischgespräche langsam ausgeblendet werden. Man muss an die sperrige Patientin des Anfangs zurückdenken. Hört Mary den anderen endlich auch einmal zu? Oder driftet sie endgültig ab? Die Balance wird durch Leigh und seine Mit-Erzähler wunderbar gehalten, obwohl die Geschichte doch Zug um Zug während des chronologischen Drehs aufgebaut wurde. Seine Schauspieler wissen ja nie, wohin und wie lange die Reise geht (für Imelda Staunton war sie kurz). Ob es nötig war, den sich verdüsternden Grundton der Handlung mittels Entsättigung der Filmfarbe zu verstärken, darüber lässt sich streiten. Die beginnende Blässe fällt bereits in den Herbstszenen auf, der Film-Winter ist dann nahezu schwarz-weiß gehalten. Der Trauer-Look wirkt doch ein wenig gewollt, zumal die Winter-Episode ohnehin einen neuen Schauplatz und zuvor unbekannte Figuren etabliert, die auf der Schattenseite stehen: Toms Schwägerin ist gestorben, gemeinsam mit Gerri und Joe fährt Tom in die trübe Provinz, um die Tote gemeinsam mit seinem Bruder Ronnie (beeindruckend stoisch: David Bradley) und dessen ziemlich missratenem Sohn Carl zu beerdigen. Leigh deutet ein trauriges Paralleluniversum zum heiteren Hauptplaneten seines Films an. Vater, Mutter, Sohn: Dieselbe Konstellation, aber ein vollkommen anderes Bild. Er zeigt in „Another Year“ eben nicht nur das zwischenmenschliche Beinahe-Paradies, er räumt zugleich ein, dass alles auch ganz anders laufen kann – aufgrund von Armut, psychischer Disposition oder weil jemand schlicht Pech gehabt hat.

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