Würde man sich den (Anti-)Helden des Films als schwarzes Schaf der Familie vorstellen, wäre er wohl eine ziemlich dickliche, ungeschorene Version: Konrad stand sein ganzes, 60 Jahre währendes Leben stets auf Abruf bereit für die herrschaftliche Industriellenfamilie Senn und damit auch für deren in den Wohlstand hineingeborenen Konzernerben Thomas, der sich irgendwann beschämt von seinem Kindheitsfreund abwandte. Konrad, im Kindesalter als Ziehsohn aufgenommen, wurde eher als Dienstleister denn als Verwandter gehalten. Als er jedoch, geistig leicht verwirrt oder wenigstens recht schusselig, den kleinen Landsitz der Familie abfackelt und dann auch noch in die Hochzeitsfeier des Enkels Philippe platzt, lässt sich das Manko der Familiengeschichte nicht mehr ausblenden. Das großmütterliche Oberhaupt Elvira nimmt Konrad auf, ohne zu bedenken, dass sich Konrad trotz seiner Alzheimer-Anfälle an Kindheitserlebnisse mit dem in die Jahre gekommenen Thomas erinnert. Deren Aufdeckung will Elvira ebenso wenig schmecken wie Konrads zart geknüpfte Freundschaftsbande zu Philippes neuer Frau Simone.
Das ist der Stoff, aus dem Claude Chabrol ein sorgfältig psychologisiertes Familienporträt gestaltet hätte. Die Romanvorlage des Films stammt indes von Martin Suter – und lässt einen Chabrolschen Reigen um Verrat, düstere Geheimnissen und fiese Manöver umso schmerzlicher herbeisehnen. „Small World“ bietet zwar ein Kleinst-Biotop interessanter Verflechtungen, doch Regisseur Bruno Chiche überspannt den dramatischen Bogen, wenn er zusätzlich ein Ehedrama, die Spionage eines angeheirateten Neuankömmlings und einen mörderischen Thriller hineinpresst. Durch angelehnte Türen eingefangene Geheimniskrämereien einer alten Dame, das hübsch neugierige Gesicht von Alexandra Maria Lara auf der anderen Seite, ein im Regen vor dem Anwesen brütender Gérard Depardieu: Mit Elvira und Simone ziehen zwei Frauen ziemlich geradlinig an dem Tau namens Konrad. Elvira ist dabei die dunkle Herrscherin einer Familien-Dynastie, in die Simone „eindringt“ – durch eine Ehe, die zudem viel zu früh und viel zu unterentwickelt dem Scheitern preisgegeben wird. Alexandra Maria Laras rehäugig anämischer Einsatz auf der Spur eines weit zurückreichenden, aber immer noch Nachbeben verursachenden brüderlichen Betrugs ist äußerst passend, aber nicht sonderlich bereichernd.
„Wie weit kann man sich eigentlich zurück erinnern?“, fragt die an Diabetes leidende Elvira ihren sie ständig betütelten Hausarzt, als sich Konrad an eine Reise nach Venedig und einen kleinen Unfall auf dem Markusplatz erinnert, den Thomas beständig verneint oder aber verdrängt. Hier liegt etwas im Argen, wie man es gerne in von Geld geschwängerten und gelenkten Familien, jenen Angehörigen der Chabrolschen Bourgeoisie, verortet. Der Großmeister des abgründigen Sujets hätte eine solch düstere Familiengeschichte aber nicht nur unheilvoll aufgebaut, sondern auch einem psychologisch nachvollziehbaren Ende zugeführt. Doch Chabrol ist tot und Chiche kein adäquater Nachfolger. Wenn er die Stimmung eines Thrillers im psychologischen Familiendrama aufzubauen versucht, scheitert dies schon daran, dass zu viele Handlungsschritte nicht nachvollziehbar entwickelt werden. Es gelingt der Inszenierung nicht, die Missetaten einer verwirrenden Vergangenheit filmisch und narrativ verständlich zu machen. Irritationen über den Auslöser mörderischer Reaktionen seitens Elvira machen sich breit, während sich die komplexen Beziehungen der angeheirateten, adoptierten und echtblütigen Familienmitglieder verheddern. Dabei atmen viele Kameraeinstellungen so deutlich den müffeligen Charme des Literaturverfilmungsgenres, dass man sich wundert, warum man Suters Buch überhaupt noch in Bilder übersetzt. Was sich auf der Leinwand entfaltet, dürfte wohl der kleinste gemeinsame Nenner der gemutmaßten Fantasie des Lesers sein – als Film bleibt das staubtrocken. Es mag eine kleine Familienwelt sein, in der sich die Fäden der Geschichte langsam entwirren. Die Erinnerungswelt von Konrad ist hingegen um vieles größer – schade nur, dass einen Chiche nicht bei der Hand nehmen und hindurchführen möchte.