Ende des Zweiten Weltkriegs wächst ein Junge unter familiär desolaten Verhältnissen in einer schottischen Bergarbeitersiedlung auf. Entwurzelt zwischen überforderter Großmutter und Kinderheimen, wird er zum Bettler und Landstreicher, zuletzt zum Kolonialsoldaten in Ägypten. Erst hier findet er durch einen Freund zu Literatur und Kunst, schließlich zu sich selbst. Die autobiografisch geprägte Trilogie von Bill Douglas (1937-91) verbindet Einflüsse eines archaischen Kinos mit hochstilisierten Momenten zu etwas völlig Eigenständigem. Der Filmzyklus ist geprägt von Skepsis gegenüber menschlicher Solidarität, zeigt aber dennoch, dass es solche Momente gibt, und welche Macht sie auf den Gang der Dinge haben können. (O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Bill Douglas Trilogie
- | Großbritannien 1972/73/76 | 48/55/72 Minuten
Regie: Bill Douglas
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Filmdaten
- Originaltitel
- MY CHILDHOOD | MY AIN FOLK | MY WAY HOME
- Produktionsland
- Großbritannien
- Produktionsjahr
- 1972/73/76
- Produktionsfirma
- British Film Institute
- Regie
- Bill Douglas
- Buch
- Bill Douglas
- Kamera
- Mick Campbell · Gale Tattersall · Ray Orton
- Schnitt
- Brand Thumim · Peter West · Mick Audsley
- Darsteller
- Stephen Archibald (Jamie) · Hughie Restorick (Tommy) · Jean Taylor-Smith (Großmutter) · Karl Fieseler (Helmut) · Bernard McKenna (Tommys Vater)
- Länge
- 48
55
72 Minuten - Kinostart
- 28.10.2010
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
Diskussion
Im Jahr 1991 starb der schottische Filmemacher Bill Douglas im Alter von 57 Jahren. Er hinterließ lediglich vier lange Filme. Seine 1978 abgeschlossene autobiografische Trilogie machte ihn zu einem der wichtigsten Regisseure seiner Heimat. International bekannt wurde er durch die Einladung zum „Internationalen Forum des jungen Films“ in Berlin, an dem er 1974 und 1979 teilnahm. Als im Februar 2010 das 40-jährige Jubiläum des „Forums“ gefeiert wurde, erinnerte das Regie-Duo So Young Kim und Bradley Rust Gray („Salt“, Caligari-Preis 2003) an Douglas. Infolge der Hommage konnten neue Kopien von den drei Filmen gezogen werden, die nun für den Verleih zur Verfügung stehen.
„My Childhood“, 1972 noch auf 16mm gedreht, zeigt den achtjährigen Jamie am Ende des Krieges als ungeliebtes Kind in den bettelarmen Verhältnissen einer schottischen Bergarbeiterstadt. Die familiären Konstellationen sind unklar. Mit seinem etwas älteren Halbbruder Tommy wächst er bei der überforderten Großmutter auf, die Mutter liegt siechend in einem Krankenhaus, mögliche Väter haben sich aus dem Staub gemacht. Jamie klettert auf den Halden der Mine herum, gräbt nach brauchbaren Kohleresten. Der Himmel hängt tief über der Siedlung in der Nähe Edinburghs, alles scheint knapp zu sein: Licht, Nahrung, vor allem aber menschliche Zuwendung. Nur zu Helmuth, der mit anderen deutschen Kriegsgefangenen auf den Feldern arbeitet, entwickelt sich eine zaghafte Freundschaft. Als der Krieg zu Ende geht und die Gefangenen nach Deutschland entlassen werden, bleibt Jamie einsamer denn je zurück. Zuletzt stirbt auch noch seine Großmutter. In „My Ain Folk“ (1973) beschreibt Douglas neuerliche Entwurzelungen. Tommy kommt ins Kinderheim in die Stadt, Jamie zieht bei einer Familie ein, die vielleicht die seines Vaters ist. Dort herrscht blanke Missgunst: Jamies mutmaßliche Großmutter tyrannisiert ihre Söhne ebenso wie ihren Mann und das Enkelkind. Während der Haushund auf einer Matratze schläft, muss sich Jamie unter dem Tisch einrichten oder das Bett mit anderen teilen. Der Großvater vergiftet sich mit Gas, sein Vater findet eine Frau und lässt seinen Sohn nochmals allein. Mit „My Way Home“ (1976), dem dritten und letzten Teil, wird der größte zeitliche Bogen geschlagen. Jamie kommt ebenfalls ins Heim – wo es ihm zunächst besser zu ergehen scheint. Der liebevolle Internatsleiter erkennt und fördert seine musischen Begabungen, vermittelt sogar eine mögliche Adoption. Doch Jamie ist zu einer Bindung längst nicht mehr fähig. Er flieht, wird zum Bettler und Landstreicher, tritt schließlich in die Armee ein. Als Kolonialsoldat trifft er in Ägypten auf den gebildeten Engländer Robert, der sanft die emotionalen Panzerungen Jamies aufbricht und ihn mit Literatur und Kunst vertraut macht. Endlich scheint Jamie am Ende seiner Reise angekommen zu sein und so etwas wie eine Heimat gefunden zu haben.
Es sind die Balancen, in denen sich die Meisterschaft der Trilogie formuliert. Douglas vermengt scheinbar Unvereinbares souverän zu etwas völlig Neuem und Eigenständigem. Dem archaischen, bisweilen an Pasolini erinnernden Gestus und dem fast dokumentarischen Stil des späten „free cinema“ stehen höchst artifizielle Inszenierungsideen und Bildfindungen gegenüber. Aus dem Wechsel von protokollarisch wirkenden Totalen und emblematischen Nahaufnahmen entwickelt sich ein körperlich pulsierender Rhythmus. Rurale oder urbane Perspektiven erscheinen wie Bühnenarrangements, Gesichter werden zu Landschaften. Durch doppelte Kadrierungen verwandeln sich einzelne Bilder zu merkwürdig-schönen Tableaus, deren Zauber durch nachfolgende Blickwechsel jedoch schnell wieder aufgelöst wird. Auch erzählstrategisch geht der Regisseur ausgesprochen kühn vor. Er arbeitet mit großen zeitlichen und kausalen Auslassungen, verzichtet auf umständliche Erklärungen. Vertrauen in die Mündigkeit des Zuschauers und in die Glaubwürdigkeit seiner Figuren sind ihm wichtiger als die Angst vor möglichen Irritationen. Wiederkehrende Motive wirken als visuelle Leitmotive, die in ihren Bedeutungen aber oszillieren können: So steht der Apfel ebenso als Zeichen für Kostbarkeit wie für Armut, für Gnade oder für Niedertracht. Dem Kino kommt in der alles erdrückenden Tristesse der Bergarbeitersiedlung eine Schlüsselrolle zu. Nur hier finden sich seltene Augenblicke des Glücks. Und es ist natürlich kein Zufall, dass die einzige farbige Sequenz der gesamten Trilogie als Ausschnitt eines Films im Film stattfindet. Danach befragt, warum er nur in Schwarz-Weiß gedreht habe, antwortete Douglas: „Vielleicht ging mal jemand die Dorfstraße hinunter und trug einen hellroten Schal, aber ich erinnere mich nicht daran.“ Douglas wusste, wovon er spricht. Sein Filmzyklus ist geradezu beängstigend dicht an die eigene Biografie angelegt. Er drehte in der Nähe seines Geburtsortes Newcraighall, die meisten Rollen besetzte er mit Laien. Mit Stephen Archibald, dem Darsteller seines Alter ego, arbeitete er über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren zusammen – er hatte ihn an einer Bushaltestelle angesprochen, wo der Schulschwänzer gerade seine Zeit totschlug. Douglas blickt zurück durch die Augen eines verletzten Kindes. Der verhaltene Optimismus, mit dem „My Way Home“ endet, revidiert zwar keinen Moment lang seine tiefe Skepsis in die zwischenmenschliche Solidarität, von der alle drei Teile geprägt sind. Gesten des Verstehens oder gar der Hilfe bleiben in diesem Erinnerungsgemälde die großen Ausnahmen. Doch immerhin finden diese Gesten statt und scheinen in der Lage, den vermeintlich unerbittlichen Gang der Dinge zu erschüttern, wenn nicht sogar zu korrigieren.
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