Rückkehr ans Meer
Drama | Frankreich 2009 | 88 Minuten
Regie: François Ozon
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Ein junger Junkie kommt durch eine Überdosis ums Leben und lässt seine schwangere, ebenfalls drogenabhängige Freundin zurück. Entgegen des Wunschs der gutbürgerlichen Familie des Verstorbenen will die junge Frau das Kind austragen. Unterstützung findet sie beim homosexuellen Bruder des Toten, der ihr während der Schwangerschaft in einem Häuschen am Atlantik Gesellschaft leistet. Mit viel Ruhe entwickeltes Drama um eine "Wiederentdeckung der Welt" vor gelassen-sommerlicher Kulisse. Jenseits traditioneller Familienmuster geht es auch um zwischenmenschliche Bindungen, Selbstfindung sowie die Bestimmung der eigenen Position im Kreislauf von Leben und Tod. (Abschluss von Ozons "Trilogie über die Trauer"; vgl. auch "Unter dem Sand" und "Die Zeit die bleibt")
- Sehenswert ab 16.
Filmdaten
- Originaltitel
- LE REFUGE
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Eurowide/FOZ/France 2 Cinéma
- Regie
- François Ozon
- Buch
- Mathieu Hippeau · François Ozon
- Kamera
- Mathias Raaflaub
- Musik
- Louis-Ronan Choisy
- Schnitt
- Muriel Breton
- Darsteller
- Isabelle Carré (Mousse) · Louis-Ronan Choisy (Paul) · Pierre Louis-Calixte (Serge) · Melvil Poupaud (Louis) · Claire Vernet (Mutter)
- Länge
- 88 Minuten
- Kinostart
- 09.09.2010
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Per aspera ad astra, jedenfalls tendenziell. François Ozon scheint fasziniert vom Skandal des Lebens, von den existenziellen Wendungen, die das Leben bereithält, und auf die man, so oder so, reagieren muss. Da ist die Erfahrung des plötzlichen und spurlosen Verschwindens des Partners („Unter dem Sand“, fd 35 132), da ist die Erfahrung des nicht so plötzlichen und nicht ganz so spurlosen Verschwindens der Liebe („5 x 2“, fd 36 732), da ist die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit mitten im Leben („Die Zeit die bleibt“, fd 37 575). Ozon stellt die nötige Fallhöhe her und beobachtet dann die Reaktion seiner Figuren. Zumeist gelingen ihm so ernsthafte (und bewegende) Reflexionen auf existenzielle Fragen des Menschseins.
Auch „Rückkehr ans Meer“ (der Originaltitel lautet so einfach wie treffend „Le Refuge“) beginnt mit einem Skandal. Louis, Sohn aus besten Pariser Kreisen, setzt sich den goldenen Schuss, seine Freundin Mousse überlebt dagegen. Der Dealer wird gefasst und bestraft, aber damit ist die Weltordnung längst noch nicht wieder in den Fugen. Denn Mousse ist schwanger von Louis – und dessen Familie gibt ihr unmissverständlich zu verstehen, dass sie keinen Nachfahren ihres gefallenen Sohns wünscht. Eine unerhörte Begebenheit! Allein bei Louis’ jüngerem Bruder Paul findet Mousse etwas Verständnis, als sie beschließt, Louis’ Sohn zur Welt zu bringen, und sich dafür in ein kleines, schön gelegenes Häuschen an der Atlantikküste zurückzieht. Jetzt nimmt sich der Film, der bislang doch ziemlich auf die Tube gedrückt hat, Zeit, um Atem zu schöpfen – der Auftakt einer lässigen Sommergeschichte, die man sich auch gut von Eric Rohmer vorstellen könnte. Eines Tages schaut Paul vorbei. Obwohl er homosexuell ist, kommen sich er und Mousse näher; aber da ist auch noch Serge, der Gärtner, in den sich Paul verguckt hat. Gemeinsam verbringt man viel Zeit, bis schließlich das Kind zur Welt kommt. In der Normalität des Sommers schärft Mousse ihren Blick auf die Dinge, war dieser ihr im Elend der Drogenhölle, mit der der Film eröffnet hat, abhanden gekommen.
Ozon erzählt die Geschichte von der Wiederentdeckung der Welt mit der gebotenen Distanz. Dabei geht es ihm nicht etwa um eine Ode an das Glück der Mutterschaft; Mousse hat sich für das Austragen des Kindes entschieden, aber über ihre Gründe erfährt man nichts. Allerdings war der Auftritt von Louis’ Mutter während der Trauerfeier derart degoutant, dass man die Entscheidung für das Kind als spontanen Akt des Widerstands begrüßt. Aber vielleicht ist Mousse auch nur neugierig, ob sie etwas von Louis im Neugeborenen wieder erkennt. Immerhin ist nicht zu übersehen, dass Mousse die Auszeit in ihrem Refugium, wo sie weiterhin Methadon nimmt, gut tut, obschon sie sich nicht grundlegend verändert. So steuert der Film recht geradlinig auf eine Pointe zu, die noch immer traditionelle gesellschaftliche Normen in Frage stellt. Mousse hat das Kind zwar ausgetragen, muss aber feststellen, dass sie die eigentlich stets unterstellte emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht aufbauen konnte. Jemand anderem scheint das mühelos möglich. Mousse kann das sehen – und geht ihrer Wege.
Betrachtet man die letzten Einstellungen des Films, staunt man schon, mit welcher Konsequenz Ozon hier die traditionelle christliche Ikonografie aushebelt. Ist dieser Kinderwunsch neu? Nicht unbedingt, denn zuvor hatte Paul beim Kirchenbesuch aufmerksam registriert, dass neben einem Marienaltar auch ein Josefs-Altar existierte. Er hat sich gewissermaßen nur etwas Freiheit zur Identifikation genommen. Nachdem Ozon zuletzt in „Ricky – Wunder geschehen“ (fd 39 278) dem Baby sogar Engelsflügel wachsen ließ, geht es in „Rückkehr ans Meer“ zwar eine Spur materialistischer zu, aber der Weg, den der Film zwischen Tod und Geburt zurückzulegen bereit ist, ringt schon Bewunderung ab und funktioniert sogar als sexualpolitische Utopie. Dabei redet, wie gesagt, der Film atmosphärisch auch einer entspannt-sommerlichen Zeitverschwendung ganz und gar unspektakulär das Wort. Und darauf lässt man sich, zumal im Kino, gerne ein.