Zwei ungleiche junge Männer, ein sorglos-resoluter Zivildienstleistender und ein misanthropischer Rollstuhlfahrer, der seine Verzweiflung hinter einer Mauer aus Sarkasmus verbirgt, begegnen einer jungen, ihrerseits von Lebensängsten geplagten Cello-Studentin. Vorzüglich gespielte, beschwingt inszenierte tragikomische Dreiecksgeschichte, die geschickt und ausgesprochen unterhaltsam eine Kaskade an Einfällen, Wendungen und treffsicheren Dialogen in Gang setzt und ganz nebenbei einfühlsam und ohne Larmoyanz Tabus, Freundschaft und Liebe verhandelt.
- Sehenswert ab 14.
Renn, wenn du kannst (2009)
Liebesfilm | Deutschland 2009 | 116 Minuten
Regie: Dietrich Brüggemann
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Wüste Film Ost/Wüste Film West/SWR Debüt im Dritten/WDR/ARTE
- Regie
- Dietrich Brüggemann
- Buch
- Dietrich Brüggemann · Anna Brüggemann
- Kamera
- Alexander Sass
- Schnitt
- Vincent Assmann
- Darsteller
- Robert Gwisdek (Benjamin) · Anna Brüggemann (Annika) · Jacob Matschenz (Christian) · Franziska Weisz (Mareike) · Leslie Malton (Benjamins Mutter)
- Länge
- 116 Minuten
- Kinostart
- 29.07.2010
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Liebesfilm | Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Komm, wir träumen! Mit dieser appellativen Einladung betitelte Leo Hiemer vor sechs Jahren seinen gleichnamigen Spielfilm (fd 37 294), was so viel meinte wie: Komm, wir machen etwas möglich, was in der Wirklichkeit „nicht geht“. Es ging um die Begegnung eines Zivildienstleisten‧den in einer Behindertenwerkstatt mit einer jungen, geistig behinderten Frau, die eindrucksvoll von Anna Brüggemann gespielt wurde: quirlig-extrovertiert, trotzig-ungebändigt, wobei die Frage nach der geistigen Behinderung zwar relevant blieb, aber nicht die alles entscheidende war. Liebe und Sehnsüchte waren Kategorien jenseits von Fragen nach dem „Normalen“ und dem „Gestörten“, der Spiegel eines Seelenlebens, das entweder zugelassen oder behindert wird. Wer aber, so fragte Hiemer, bestimmt das Maß, was dabei als „normal“ und gesund gilt?
Nun heißt der neue Film mit (und von) Anna Brüggemann ähnlich (auf-)fordernd: „Renn, wenn du kannst!“, und vielleicht hat sich die einmal mehr überzeugende junge Schauspielerin und Co-Au‧torin an die Perso‧nen‧konstella‧tion und Thematik aus Hiemers Film erinnert, als sie gemeinsam mit ihrem Bruder, dem Regisseur Dietrich Brüggemann, das Sujet „Behinderung“ aufgriff (das ihr als Darstellerin einer behinderten jungen Frau auch in „Bergfest“, fd 39 954, begegnete). Wie in seinem Debüt „Neun Szenen“ (2006) entwickelt das Geschwisterpaar eine im Prinzip konventionell-vertraute Dreiecksgeschichte, die freilich so intensiv, so genau in den Beobachtungen, so spielerisch in den gestalterischen Mitteln und zudem so lakonisch-amüsant erzählt wird, dass die ereignisreiche Handlung nie in (falschem) Mitleid und Larmoyanz versandet. Vielmehr vermittelt sich einfühlsam, glaubwürdig und vor allem ausgesprochen unterhaltsam viel vom Lebensgefühl junger Menschen in dieser tragikomischen Geschichte um Tabus, Freundschaft und Liebe.
Christian, ein sorglos-selbstbewusster Zivildienstleistender, tritt einen neuen Job an: Er kommt zu Benjamin, einem seit einem Autounfall vor sieben Jahren an den Rollstuhl gefesselten jungen Misanthropen und Zyniker, der „seine“ Zivis ebenso schikaniert wie seine überforderte Mutter, womit er vor allem verbirgt, wie sehr er unter seiner permanenten Abhängigkeit leidet. Seit zwei Jahren beobachtet Benjamin, der an Tetraplegie leidet, einer Querschnittslähmung, die Beine und Arme betrifft, nun schon durchs Fernrohr, wie die hübsche Cello-Studentin Annika vor seinem Balkon vorbeiradelt – dass sie dann ausgerechnet mit Christian kollidiert, bringt die drei zunehmend enger zusam‧men, wobei sich die beiden ungleichen jungen Männer zunächst darum bemühen, Annika zu helfen (und ihr zu imponieren): Die hochtalentierte Musikerin flieht nämlich voller Angst vor jedem öffentlichen Solo-Auftritt, womit sie allerdings nicht die einzige Schutz- und Hilfsbedürftige des Trios ist. Während vieler Gesprächen und turbulenter Erlebnisse, mal zu zweit, mal zu dritt, kommt immer mehr die Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben voller Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe hoch. Doch angesichts Benjamins nicht veränderbarer Situation kann man zwar eine Zeit lang Dinge probieren, gemeinsam träumen und sogar reglos verharrend vom Balkon aus die Welt beobachten; doch an ihr teilneh‧men, das will nach den Möglichkeiten eines jeden gelernt sein.
Wie bei Leo Hiemer geht es also um die grundsätzliche Relevanz von Gefühlen und seelischen (Grund-)Bedürfnissen, die anerkannt und erkämpft werden wollen, wobei besonders beim eloquenten Benjamin der harte Schutzpanzer lange selbst angesichts der größten Verzweiflung hält. Hier gelingt Robert Gwisdek, der souverän auf der emotionalen Klaviatur zwischen tiefer Trauer und nüchternem Realitätssinn spielt, ein beachtlicher Kraftakt, was dem Film viel an Gewicht und Glaubwürdigkeit verleiht, der ansonsten aber auch dank der mutigen, temperament‧vollen Inszenierung überzeugt: Selbst in den vielen intimen Nachtszenen nutzt er souverän das breite Scope-Bild, füllt es mit Poesie und spielerisch-beschwingter Fantasie, aber auch mit dramatischen Szenen von traumatischem Symbolwert. „Renn, wenn du kannst“ bietet schönes, intensives Kino, das seinerseits etwas möglich macht, was in der Wirklichkeit (vielleicht) „nicht geht“.
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