Dokumentarfilm über das 1964 gescheiterte Projekt "L'enfer", eine tragische Ehe- und Eifersuchtsgeschichte des französischen Regisseurs Henri-Georges Clouzot. Mit Hilfe des seinerzeit gedrehten Materials, das einen spannenden Eindruck von Clouzots "entfesselter" Bildsprache gibt, kritisch-distanzierter Interviews sowie einiger nachgestellter Szenen vermittelt sich ein intensiver Eindruck von der visuellen und erzählerischen Kraft, aber auch der ästhetischen Radikalität des unvollendeten Werks. Zugleich wird deutlich, welch selbstausbeuterischer Kraftakt die Dreharbeiten für alle Beteiligten waren. Besonders beeindruckend: Romy Schneider, die sich dem Stoff und der Kamera vollkommen hingab.
- Sehenswert ab 16.
Die Hölle von Henri-Georges Clouzot
Dokumentarfilm | Frankreich 2009 | 102 Minuten
Regie: Serge Bromberg
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Filmdaten
- Originaltitel
- L' ENFER D'HENRI-GEORGES CLOUZOT
- Produktionsland
- Frankreich
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Lobster Films/France 2 Cinéma/Canal+/CinéCinéma/Canal+ Horizons
- Regie
- Serge Bromberg · Ruxandra Medrea Annonier
- Buch
- Serge Bromberg
- Kamera
- Jérôme Krumenacker · Irina Lubtschansky
- Musik
- Bruno Alexiu
- Schnitt
- Janice Jones
- Länge
- 102 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Die umfangreichen Extras enthalten u.a. ein 14-seitiges informatives Booklet, zudem den Film "Seine Gefangene" (1968) - die letzte Regiearbeit von Henri-Georges Clouzot (102 Min., FSK "ab 16") und die ausgezeichnete ergänzende Dokumentation "Sie haben die Hölle gesehen" (57 Min.) von Serge Bromberg. Die schöne Edition ist mit dem Silberling 2010 ausgezeichnet.
Diskussion
Dass viele Filme trotz eines riesigen Budgets misslungen sind, ist kein Geheimnis. Manchmal, so möchte man angesichts von Henri-Georges Clouzots Filmprojekt „L’enfer“ meinen, ist das viele Geld vielleicht sogar ein Fluch. Doch diese aufreizende Einschätzung grenzt angesichts der tragischen Dimension des Projekts schon fast an Pietätlosigkeit; denn mit „L’enfer“ hatte Clouzot 1964 Großes vor; der Film stellte eine Herzensangelegenheit für ihn dar. Den Rebellen der Nouvelle Vague und den Kritikern der „cahiers du cinéma“, die seine Filme nicht sehr schätzten, wollte er beweisen, dass auch er noch etwas zum Kino beizutragen habe. Womöglich schmerzte ihn deren Verachtung doch zu sehr. Nur so ist zu verstehen, mit welcher Akribie und Selbstausbeutung sich der 57-Jährige in die Arbeit an „L’enfer“ stürzte, obwohl er nach Werken wie „Lohn der Angst“ (fd 2609), „Die Teuflischen“ (fd 4026) oder „Die Wahrheit“ (fd 9860) niemandem etwas hätte beweisen müssen.
„L’enfer“ kam nie in die Kinos. Wie das geschehen konnte, enthüllt der Dokumentarfilm „Die Hölle von Henri-Georges Clouzot“. Serge Bromberg war es gelungen, die Rechte an dem seit 1964 im Archiv schlummernden Material zu erhalten: 15 Stunden Drehmaterial in 183 Filmbüchsen. Was man davon zu sehen bekommt, ist inhaltlich und technisch atemberaubend – selbst dann, wenn man mit großen Erwartungen an die Sache herangeht. „L’enfer“, das nach Clouzots Drehbuch 1993 von Claude Chabrol doch noch verfilmt wurde („Die Hölle“, fd 30 731), erzählt – erotisch aufgeladen – vom Drama eines Mannes, der sich unaufhaltsam in Eifersuchtsfantasien verliert und dabei Realität und Wahn nicht mehr auseinander halten kann. Von Columbia Pictures hatte Clouzot ein unlimitiertes Budget erhalten, und dementsprechend machte er sich an die Arbeit. Wie ein Wilder experimentierte er parallel mit drei verschiedenen Filmteams um die Kameramänner Claude Renoir, Andréas Windung und Armand Thirard. Schon die Studioaufnahmen zeugen von einem Innovationswillen, als versuchte der renommierte Regisseur, ein- und für allemal alle europäischen „Wellen“ und Richtungen zu überrollen. Während Clouzot die realen Szenen in Schwarz-weiß drehen ließ, wählte er für die Fantasien seiner Hauptfigur Farbe. Noch heute verblüffen seine Anleihen bei der damals aktuellen Op-Art und seine Ton-/Sprach-, vor allem aber Lichtexperimente mit dem von Louis Dufay konstruierten Heliophore, das die Gesichter der 24-jährigen Romy Schneider und ihres Filmpartners Serge Reggiani so eindringlich verfremdet, als befände man sich in einem Film von Terry Gilliam.
Als die Außenaufnahmen begannen, nahm der Druck weiter zu. Gedreht wurde in unmittelbarer Nähe zum Garabit-Viadukt in der Auvergne, wo ein Elektrizitätsunternehmen einen künstlichen See anlegte, der wenige Tage später abgelassen werden sollte. Kein CGI-Spezialist der Welt könnte sich ein grandioseres, surrealer anmutendes Setting ausdenken. Clouzot verlangte seinen Teams und Darstellern alles ab und war trotz des engen Zeitplans ständig unzufrieden. Während Romy Schneider alles tat, um Clouzot zufrieden zu stellen, brach Reggiani körperlich und psychisch zusammen und verließ den Drehort. Jean-Louis Trintignant reiste als möglicher Ersatz an, war aber genauso schnell wieder verschwunden. Bald darauf erlitt Clouzot einen Herzinfarkt und musste den Film aufgeben. Erst vier Jahre später kehrte er für seinen letzten Film „Seine Gefangene“ (fd 16 050) noch einmal als Regisseur ans Set zurück. Dieser mutige, auf den Experimenten von „L’enfer“ aufbauende Film über weibliche Erniedrigung und männlichen Ennui liegt der DVD-Edition bei und gibt einen Eindruck davon, was aus „L’enfer“ hätte werden können. 1977 starb Clouzot. Es ließe sich viel spekulieren über „L’enfer“, etwa wie viel von Clouzot, der kokett angab, sich nicht besonders für psychische Fragen zu interessieren, selbst darin steckt. Die einzelnen Fragmente des Films sind betörend, aber wie hätte der Film als Ganzes gewirkt? Wäre Clouzot fähig gewesen, die Disparität des Materials zu bändigen? Brombergs Film hält sich seriös, aber auch etwas zu ehrfurchtsvoll zurück und vertraut ganz auf die Kraft des ans Licht geförderten Materials. In den distanziert-kritischen Interviews kommen u.a. Catherine Allégret (damals Schauspielerin), Constantin Costa-Gavras (Clouzots Regieassistent) und William Lubtchansky (Kameraassistent) zu Wort. Nicht verwendetes Interview-Material wird in einer fast einstündigen zusätzlichen Dokumentation vorgestellt. (Vgl. auch den Artikel „Zunge im Wasserglas“ in FILM-DIENST 07/10.)
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