Ein auf autobiografischen Spuren wandelnder Dokumentarfilm über Menschen und Landschaften zwischen Stettin und Berlin, wobei der Filmemacher Volker Koepp viele Protagonisten aus früheren Werken erneut aufsucht. Einmal mehr entsteht daraus ein faszinierendes geschichtsträchtiges, sich aus individuellen Erfahrungen und Erinnerungen formendes Panorama, das gleichermaßen poetisch und bodenständig-realitätsverbunden ist.
- Sehenswert ab 14.
Berlin - Stettin
Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 114 Minuten
Regie: Volker Koepp
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2009
- Produktionsfirma
- Vineta Film/SWR/RBB
- Regie
- Volker Koepp
- Buch
- Volker Koepp
- Kamera
- Thomas Plenert
- Musik
- Rainer Böhm
- Schnitt
- Beatrice Babin
- Länge
- 114 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
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Heimkino
Diskussion
Der Lieblingsort von Volker Koepp liegt bei Gerswalde, jeweils 70 Kilometer von Berlin wie von Stettin entfernt, das heute Szczecin heißt und in Polen liegt. Würde man mit einem Zirkel Kreise um die anliegenden Landschaften ziehen – karge Hügel aus der Eiszeit, Niederungen der großen Ströme, die sich in die Haffs ergießen, dahinter das Meer, die Ostsee –, dann würde man exakt jene Landstriche erfassen, die
Koepp in seinen Filmen bereist und porträtiert hat. Die Koordinaten für die Geschichte dieser Landschaften gibt der Filmemacher im „Voice Over“-Kommentar an: preußische Provinzen, deutsche Zeit und slawische Zeit, Christianisierung, der Dreißigjährige Krieg, Schweden und die Pest, Kriege und Teilung, Entvölkerung und Neubesiedlung. Koepps Ansatz, Filme zu machen, bestand schon immer darin, nicht nur Menschen, sondern auch die sie umgebenden Landschaften – sowohl als geografischer Ort, aber auch als Geschichtslandschaft – zu porträtieren. Diesem Umstand und dem beeindruckenden Gespür seines langjährigen Kameramannes Thomas Plenert verdanken sich die vermutlich schönsten Landschaftsaufnahmen des deutschen Films.
Wenngleich Koepp nach der Wende oft osteuropäische Kulturlandschaften jenseits der Oder erkundet hat, so kehrte er doch immer wieder zu den Schauplätzen seiner früheren DDR-Filme zurück, in denen alles sicht- und spürbar ist, wegen der Zensur aber nicht verbalisiert wird. Auch das ist ein Grund dafür, dass seine Reflexion über Zeitgeschichte anhand von Landschaften und Menschen auch heute so überzeugend, ja glaubwürdig wirkt. Da Koepp sich Zeit für beides lässt und mit aufmerksamer Beiläufigkeit und einer geduldigen Neugier die Menschen nach ihren Lebens- und Arbeitsverhältnissen befragt, macht das, was vor Ort zu finden ist, seine Filme erst aus. Zumal der Respekt und die Zuneigung, die er ihnen entgegenbringt, wohl dafür sorgen, dass sie ihm mit einer entwaffnenden Offenheit begegnen, und auch für die Zuschauer eine Art unausgesprochene Komplizenschaft erfahrbar wird. Das Ergebnis sind ebenso unsentimentale wie berührende Filme. All dies findet sich auch in Koepps jüngstem Werk, das abermals Menschen ins Zentrum rückt, um Persönliches und Privates in einen größeren historischen Zusammenhang einzubetten. Diesmal aber macht Koepp, der als Gesprächspartner im Off bislang zwar stets präsent war, jedoch völlig unprätentiös agierte, nicht vor sich selbst halt.
In seinem bislang persönlichsten Film, der seiner Mutter gewidmet ist, begibt sich der Regisseur auf Spurensuche in eigener Sache. Der erschütternde Brief einer ehemaligen Nachbarin, die als Kind mitansehen musste, wie Koepps Mutter nach der Flucht aus der Heimatstadt Stettin nach Broda bei Neubrandenburg der Willkür der russischen Soldaten ausgesetzt war, bildet den Ausgangspunkt seines filmischen Lebensrückblicks. „Berlin – Stettin“ hieß ein Kinderspiel, das Koepp nach dem Krieg in Berlin-Karlshorst spielte, wo er aufwuchs. Ein Stadtteil, in dem sich das Hauptquartier der Roten Armee befand und Koepp die Ereignisse des 17. Juni 1953 erlebte. Den ungarischen Aufstand 1956 verfolgte er am Rundfunkgerät. Als die russischen Panzer 1968 Richtung Prag rollten, protestierte er mit anderen Studenten der Filmhochschule in Babelsberg gegen die Invasion. Um der Exmatrikulation zu entgehen, musste er als Strafarbeit einen Dokumentarfilm über Arbeiter in der brandenburgischen Provinz drehen. Ein Sujet, an dem er Gefallen fand, in einer Gegend, die ihm viel bedeutete.
Zwischen Berlin und Stettin entstanden viele seiner Dokumentarfilmprojekte, deren Protagonisten er jetzt erneut mit der Kamera besucht: in Zehdenick eine Gruppe von Ziegelarbeitern aus der „Märkischen Trilogie“ (1988–1991), mit denen Koepp die Wende erlebte, die Textilarbeiterinnen Elsbet und Renate aus Wittstock (1975–1997), im mecklenburgischen Schwaan die selbstbewusste Schweißerin Karin aus „Tag für Tag“ (1979). Der unspektakuläre Maloche-Alltag aus den DEFA-Filmen und die desillusionierenden Erfahrungen nach der Wende spiegeln politische und gesellschaftliche Veränderungen seit 1989. In der Uckermark spürt Koepp zugezogene Menschen wie die Journalistin Anetta Kahane oder die Schauspielerin Fritzi Haberlandt auf, die mit dem Landstrich neue Stimmungslagen verbinden. Ein Politologe aus Hessen nutzt ein Schloss vor der polnischen Grenze als Kultur- und Wissenschaftszentrum, in dem auch polnische Studenten aus Stettin, Pawel und Alexandra verkehren. Der Film endet auf ihrer Diplomfeier in Szczecin. Der Kreis schließt sich: autobiografisch und in der eingeschnitten Epilog-Szene aus „Tag für Tag“, in der es Karin nicht gelingt, die Motorhaube ihres Trabants zu schließen, auch filmisch. Koeppsche Gegenwart der Vergangenheit: damals Sinnbild der Mangelwirtschaft, heute möglicherweise eine Metapher dafür, dass in den ambivalenten Erinnerungen diese Vergangenheit kaum unter einem Deckel zu bringen ist.
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