Obwohl eine der prominentesten Frauengestalten der Kirchengeschichte und schon zu Lebzeiten verehrt, wurde Hildegard von Bingen (1098-1179) nie heilig gesprochen. Auch ein Ende der 1970er-Jahre gestellter Antrag, Hildegard als Kirchenlehrerin anzuerkennen, befindet sich nach wie vor in der Prüfphase. Für die (Glaubens-)Praxis scheinen diese Formalia aber nicht allzu schwer zu wiegen: Das katholische Brauchtum und die Eingliederung in den Kanon haben der Ende des 11. Jahrhunderts geborenen Mystikerin längst den Status einer Heiligen zugebilligt. Nicht heilig, aber doch heilig: Vielleicht ist diese Ambivalenz für die Äbtissin eine treffende Charakterisierung, die die Demut als Tugend pries, gleichzeitig aber geschickt ihre Handlungsspielräume ausreizte und sich einen Wirkungskreis als Predigerin, Prophetin und Naturwissenschaftlerin erschloss, der ihr Einfluss und Achtung bescherte. Der Antrag auf Hildegards Würdigung als Kirchenlehrerin stammt von der Arbeitsgemeinschaft katholischer Frauenverbände, die, inspiriert von der Frauenbewegung, eine Umdefinition weiblicher Rollenmuster und eine Neuentdeckung und -bewertung historischer Frauengestalten auch in der Kirche anstrebte. Auch Margarethe von Trotta kam im Zuge des Hildegard-„Revivals“ in den 1970er-Jahren erstmals auf die Idee, sich mit der Figur zu befassen. Dass diesem Plan erst jetzt Taten folgen, kann man entweder als viel zu spät ansehen, weil das ursprüngliche (weibliche) Interesse an der Entdeckung historischer „Gewährsfrauen“ für die eigenen Bestrebungen nach (gesellschaftlicher und/oder kirchlicher) Aufwertung an Elan verloren hat, oder man kann es begrüßen, weil eine spannende Frauenfigur, die in den letzten Jahren zur Ikone einer Wellness-Spiritualität zwischen Naturheilverfahren, liturgischem Tanz und Dinkelkeksen zurückgestutzt zu werden drohte, neue Würdigung erfährt. Erfreulich an von Trottas Film ist jedenfalls, dass die Filmemacherin konsequent darauf verzichtet, ihre Figur weich zu zeichnen oder ihre Ecken und Kanten abzuschleifen. Im Gegenteil: Sie lässt Hildegard als ebenso komplexen wie zum Teil auch widersprüchlichen Charakter gelten. Allerdings zahlt die Regisseurin dafür den Preis, dass sie die Komplexität und Vielseitigkeit ihrer Figur dramaturgisch nicht in den Griff bekommt: Der Film gleicht einer Art Hildegard-Parcours, der viele wichtige Aspekte und Stationen aus dem Leben und Wirken der Klosterfrau abschreitet, ohne dabei einen Fokus zu finden oder einen erzählerischen Sog zu entfalten, der für die Figur und ihre Geschichte einnehmen würde.
Dabei beginnt der Film angenehm irritierend: Das erste nachchristliche Jahrtausend neigt sich dem Ende zu; verängstigte Menschen kommen in einer Kirche zusammen, um dem befürchteten Ende der Welt betend entgegenzusehen. Unter ihnen ist ein kleines Mädchen. Irgendwann schlafen alle ein; dann wacht das Mädchen auf. Es geht zum Tor der Kirche, schaut hinaus: Draußen dämmert über der winterlichen Welt ein neuer Morgen. Den Konventionen des Bio-Pics entsprechend, müsste die Kleine aus der Anfangssequenz eigentlich die Heldin sein; aber das ist nicht möglich: Hildegard kam erst ein Jahrhundert später zur Welt. Trotzdem scheint die Sequenz über die auf fehlgeleiteten religiösen Vorstellungen beruhende Millenniums-Hysterie und den staunenden, die Angst überwindenden Blick des Kindes in die Natur in verdichteter Form einen Ausblick zu geben auf das, um was es in der Filmbiografie Hildegards gehen könnte: um das Ringen einer Frau nach neuen Impulsen in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch, Gott und Natur.
Was sich daran anschließt, löst dieses Versprechen nur rudimentär, kann es gar nicht halten unter dem Druck, das reiche Leben der Protagonistin von der Kindheit bis zur Bahre in möglichst feinen Verästelungen zu verfolgen: Da ist der Eintritt der kleinen Adeligen ins Kloster im Alter von acht Jahren und die Erziehung durch Jutta von Sponheim, womit eine schwesterliche Liebes- und Eifersuchtsbeziehung mit einem anderen Zögling ihren Anfang nimmt; der Aufstieg zur Äbtissin, ihre medizinischen Ambitionen, die Visionen (bei denen es besser gewesen wäre, entweder ganz auf ihre Darstellung zu verzichten oder sie mit deutlich mehr inszenatorischem Ehrgeiz in Szene zu setzen), die Beziehungen zu ihrem „Miteingeweihten“ und Schreiber Propst Volmar und zu Richardis von Stade, einer jüngeren Nonne, für die Hildegard eine besondere Zuneigung entwickelte. Da sind die konfliktreiche Gründung ihres eigenen Klosters sowie (kirchen-)politische Taktik-Spiele, um als Frau ihre Stimme geltend machen zu können. Der Film schafft es nicht, aus all diesen Facetten ein lebhaftes Porträt zu machen; weder wird der Kamera Zeit und Raum gelassen, um ein Gespür für die Textur der mittelalterliche Lebenswelt zu entwickeln, noch prägen sich innerhalb des zu großen Figurenensembles Beziehungen heraus, die Substanz genug hätten, um zur Konturierung von Hildegards Charakter beizutragen oder die Konfliktfelder, in die sie verstrickt ist, anschaulich zu machen. So wirkt der Film wie eine gutgemeinte cineastische Lehrstunde, die pflichtschuldig Informationen zum Leben Hildegards wiedergibt. Diese hätte man aber auch in einem Heiligenlexikon nachlesen können.