- | Frankreich/Philippinen 2009 | 105 Minuten

Regie: Brillante Mendoza

Ein Polizeistudent aus Manila wird von korrupten Vorgesetzten aufgefordert, am Abend seines Hochzeitstags an einer nicht näher erläuterten Aktion teilzunehmen, bei der dann eine Prostituierte aus der Stadt geschafft und ermordet wird. Mit minimalistischen Mitteln entfaltete, semidokumentarische Geschichte um die Initiation eines jungen Mannes in ein menschenverachtendes System, die in einer bestialischen Tötung gipfelt. Die meisterhafte Inszenierung macht strukturelle Bedingungen hinter der monströsen Handlung sichtbar; gleichzeitig zwingen die stringente Dramaturgie und die außergewöhnliche Erzählperspektive auch die Zuschauer in eine komplizenhafte Situation. (O.m.d.U.)
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
KINATAY
Produktionsland
Frankreich/Philippinen
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Swift Prod./Centerstage Prod.
Regie
Brillante Mendoza
Buch
Armando Lao
Kamera
Odyssey Flores
Musik
Teresa Barrozo
Schnitt
Kats Serraon
Darsteller
Coco Martin (Peping) · Mercedes Cabral (Cecille) · Julio Diaz (Kap) · Jhong Hilario (Abyong) · Maria Isabel Lopez (Madonna)
Länge
105 Minuten
Kinostart
15.07.2010
Fsk
ab 18; f
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Brillante Mendozas „Kinatay“ ist einer jener Filme, über die viel zu viele Gerüchte und Unterstellungen im Umlauf sind. Seit seiner Premiere in Cannes 2009 eilt dem Film der Ruf eines zynischen, amoralischen Schockers voraus, der ein Nichts an Plot – eine Prostituierte wird von einer Gruppe korrupter Polizisten verschleppt, ermordet und in Einzelstücken über Manila verteilt – bis zur Unerträglichkeit aufblase und voyeuristisch ausbeute. Wahr daran ist, dass das erzählerische Kalkül in der Tat eine extreme Grenzüberschreitung darstellt. Denn durch seine außergewöhnliche Ästhetik kulminiert der Film in einer bestialisch grausamen, tief verstörenden Handlung, die durch die grobkörnigen Bilder der nervösen Handkamera zudem jede Möglichkeit zur Distanzierung untergräbt. Das Drehbuch verweigert nicht nur jede Form von Entlastung, sondern zwingt den Zuschauer überdies durch die Identifikation mit dem Protagonisten, einem jungen Polizeistudenten, in eine komplizenhafte Situation, aus der es kein Entrinnen gibt – es sei denn, man verlässt den Kinosaal. Von der blutigen Bedeutung des Titels „Kinatay“, der in Tagalog schlicht „schlachten“ bedeutet, ist zunächst kaum etwas zu spüren. Der Film wirft sich vielmehr mit dokumentarischer Verve ins morgendliche Leben in einem ärmlichen Viertel von Manila. Aus einer Vielzahl unmittelbarer Aufnahmen erwächst eine Topografie der Armut: enge Gassen und Behausungen, ein Gewirr und Gewusel, bei dem alle Dinge des Lebens auf engstem Raum zusammen geschoben sind: Wohnen, Schlafen, Kochen und Einkaufen, der Klempner neben dem Bäcker, schräg gegenüber werden gerade Hühner zerteilt. Nach einer Weile schält sich eine Figur aus den Menschenmengen heraus: Peping, ein junger Mann, der ein weißes Hemd über das T-Shirt der Polizeiakademie gezogen hat. Für ihn ist heute ein besonderer Tag: Er heiratet die Mutter seines kleinen Sohnes, der bei einer Tante abgegeben wird, ehe sich das Paar auf den langen Weg ins Rathaus macht. Der 20-Jährige strahlt etwas von einem Sunnyboy aus, eine Mischung aus Naivität, Charme und Unschuld, die nicht recht zum blutigen Szenario passen will, das der Instruktor später im Unterricht analysiert. „Insight out“ oder „Outsight in“, will er von den angehenden Ermittlern wissen, wie recherchiert man an einem Tatort? Im Detail spielt er damit bereits das schockierende Geschehen der Nacht durch, wie sich der Film überhaupt durch auffällige Korrelationen, wenn nicht gar Spiegelungen auszeichnet. Immer sind zahllose Menschen beteiligt, von denen oft nur Hände oder Umrisse zu sehen sind, was präzise den minderen Grad ihrer Involviertheit andeutet. Ständig wird geliehen, getauscht, geteilt, ein steter Fluss der Partizipation, nahezu subjektlos, dem Mangel und der Armut geschuldet, aber auch dazu angetan, Verantwortung zu delegieren oder gar zu atomisieren. Im Schatten solcher Strukturen blühen Korruption, Bestechung, Schutzgelder, weshalb es kaum verwundert, dass auch Peping Teil dieses kaum sichtbaren Systems ist, für das eine Organisation wie die Polizei geradezu prädestiniert erscheint. „Kinatay“ führt überdies in eine elternlose Welt, in der die Bindungskraft unmittelbarer Beziehungen durch Loyalitätsformen gegenüber dubiosen Paten, Freunden oder Vorgesetzten ersetzt wurde. Bevor Peping am Abend seines Hochzeitstages in den Kleinbus steigt, mit dem eine entführte Prostituierte aus der Stadt geschafft wird, überbringt er als Teil einer Helferkette einen Rucksack voller Geld, das kleinen Läden und Straßenhändlern abgenötigt wurde. Seine Anlaufstation ist Abyong, ein „Freund“, der auf die Frage, wohin die Fahrt gehe, keine Antwort gibt. Mit einer Hand voll anderer stummer Gestalten, offenbar alle im Dienst der Polizei, kauert Peping schweigend und zunehmend bedrückt in dem Van, der aus den belebten Vierteln Manilas hinaus an die Peripherie fährt, während die Ungewissheit, wohin das Ganze führen wird, durch die abgründige Soundcollage ins Unerträgliche gesteigert wird. Diese Passage ins Grauenhafte ist filmgeschichtlich ohne Beispiel und „funktioniert“ auch dann, wenn man weiß, was einen am Ziel erwartet. Die Dramaturgie des Nichtwissens bzw. Nichtwissenwollens wirkt in ihrer albtraumhaften Unerbittlichkeit gerade deshalb so erschütternd, weil sie mit minimalistischen Mitteln arbeitet. Auf der Leinwand wird es immer düsterer, sodass bald nur noch Konturen zu erkennen sind, wenn nicht gerade fahle Straßenlaternen einzelne Details aus dem Wageninneren schlaglichtartig erhellen. Von den Insassen kann man dabei nur das verschwitzte Gesicht Pepings erkennen, während die anderen primär aus seiner Perspektive aufgenommen sind; auch im Keller des Anwesens, in dem die Entführung zum Halten kommt, behält Mendoza dieses Erzählprinzip weitgehend bei. Der Effekt dieser extremen Zügelung des filmischen Blicks ist enorm, weil man gar nicht anders kann, als mit Peping davonlaufen und der Zuspitzung entgehen zu wollen, oder viel dafür gäbe, wenn die semidokumentarische „Dogma“-Variante um einen eskapistischen Schlenker ergänzt würde. Denn Peping wird tatsächlich losgeschickt, um Bier und etwas zum Essen zu besorgen, außerdem erhält er eine Pistole; doch seine zögerlichen Fluchtversuche scheitern im Ansatz, weil er innerlich schon lange verloren hat, was ein Close-up auf den Slogan seines Shirts ins Bild hebt: „Integrity once lost, ever gone.“ Es gibt einige solcher plakativer Schriftzüge, die wie Flashs die Szenerie beleuchten, vor allem Anspielungen auf den Katholizismus der philippinischen Gesellschaft; man kann darin Warnschilder auf dem Weg zur Hölle erkennen oder ironische Interpunktionen innerhalb einer Initiationsgeschichte ins real existierende Böse, dessen paradigmatische Struktur hinter aller Widerwärtigkeit der Handlung nicht übersehen werden sollte; denn die Männer sind nur Rädchen innerhalb eines Gefüges, kalte, ans Töten gewöhnte Befehlsempfänger, die sich nach getaner Arbeit die Blutspritzer vom Körper waschen, ein frisches Hemd überziehen und in einer Garküche kräftig zulangen. Man scheut unwillkürlich davor zurück, „Kinatay“ ein Meisterwerk zu nennen, weil er in seiner radikalen Destruktion auf einen Nihilismus zusteuert, der alle Differenzierungen zu schlucken droht. Doch selten ist im Kino das Töten so sehr aufs (unerträgliche) Handwerk des Schlachtens „reduziert“ und durch eine radikale Dramaturgie zugleich zur Höllenqual gemacht worden.
Kommentar verfassen

Kommentieren