Ein deutsches Paar lernt in Tanger eine junge Marokkanerin kennen, die von zu Hause geflohen ist, um einer Verheiratung zu entgehen und Tänzerin zu werden. Die Berlinerin lässt es geschehen, dass die Fremde eine Affäre mit ihrem Partner beginnt, um dessen Loyalität auf die Probe zu stellen; diese wiederum hofft, mit Hilfe der Deutschen ihrem frauenfeindlichen Umfeld entkommen zu können. Ein ebenso sinnlich wie hintersinnig entwickelter Film über deutsche Orient-Imaginationen und den "Clash" zweier Lebenswelten mit unterschiedlichen Mentalitäten und Erwartungen, wobei beide Seiten differenziert ausgeleuchtet werden, nicht zuletzt auch dank starker Darsteller. (Teils O.m.d.U.)
- Sehenswert ab 16.
Tangerine
- | Deutschland/Marokko 2008 | 100 Minuten
Regie: Irene von Alberti
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Filmdaten
- Originaltitel
- TANGERINE
- Produktionsland
- Deutschland/Marokko
- Produktionsjahr
- 2008
- Produktionsfirma
- Filmgalerie 451/Kasbah-Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
- Regie
- Irene von Alberti
- Buch
- Irene von Alberti
- Kamera
- Birgit Möller
- Musik
- Zeid Hamdan
- Schnitt
- Silke Botsch
- Darsteller
- Sabrina Ouazani (Amira) · Nora von Waldstätten (Pia) · Alexander Scheer (Tom) · Naima Bouzid (Neshua) · Nohad Sabri (Mimita)
- Länge
- 100 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Diskussion
Eine schöne, widersprüchliche Figur ist Amira: verspielt, kindlich, aber auch berechnend, gerissen und sich ihrer (erotischen) Wirkung deutlich bewusst. Ihre Verzweiflung kaschiert sie mit Pragmatismus und Dreistigkeit, doch auch die ostentativ zelebrierte Lebensfreude passt ins Rollenbild. Amira bietet die perfekte Projektionsfläche für all die Klischees, Vorurteile und Sehnsüchte gegenüber der Welt des Orients nicht nur für die jungen Grünschnäbel aus der Berliner Musikerszene, die für ein paar Wochen in Tanger zu Gast sind. Auch die Zuschauer können in der jungen Frau das Urbild dessen erblicken, was man sich aus europäischer Perspektive unter dem Stichwort „Morgenland“ vorstellt. Geschickt bewegt sich Autorin und Regisseurin Irene von Alberti zwischen Bruch und Affirmation; Klischees werden teils entzaubert, teils aber auch in den Dienst von Dramaturgie und Atmosphäre gestellt. So bedient sie sich ausführlich sehr sinnlich in Szene gesetzter Eindrücke, entfaltet einen Reigen aus Farben, Gerüchen, Klängen, Stimmungen, macht mit naher Kamera die Struktur von Stoffen, Pailetten und allerlei Tand fast haptisch erfahrbar, kurz: sie gießt ihre unverhohlene Faszination für Marokko in eindrückliche Bilder und Töne. Dann aber lässt sie ihre orientalischen Figuren über Stereotypen à la „1001 Nacht“ witzeln und anschließend den Berliner Musiker Tom auftreten, der seiner Geliebten Amira ein völlig ironiefrei gemeintes „meine Scheherazade“ ins Ohr flüstert.
Alberti inszeniert einen klassischen Clash der Kulturen, ohne sich in den Fallstricken des Motivs, in Plattitüden und allzu groben Vereinfachungen zu verlieren. „Tangerine“ erzählt von Tom und seiner Freundin Pia, die gemeinsam mit ein paar Freunden nach Tanger gekommen sind, um sich dort auf die Spuren arabischer Musik zu begeben und mit einheimischen Musikern zu spielen. Das erweist sich als schwieriger als gedacht – auch, da an jeder Ecke die Ablenkung lockt. Eine solche ist Amira, mit der sich zunächst Pia anfreundet: Amira ist gerade zu Hause rausgeflogen, da sie nicht verheiratet werden will, sondern Tänzerin sein möchte. Sie ist in der Wohnung der Prostituierten Neshua unterkommen, wie auch eine Hand voll anderer Frauen, die für die arabische Welt zu freizügig oder selbstbestimmt leben. Pia ist fasziniert von der schönen Bauchtänzerin, sieht in ihr aber auch eine Möglichkeit, die eigene kriselnde Beziehung auf ihre Standfestigkeit, sprich: Toms Treue, zu überprüfen. Deshalb lässt sie es zu, dass Amira und Tom eine Affäre beginnen. Doch es sind nicht nur die Deutschen, die ihre Sehnsüchte auf „die Fremde“ projizieren. Es ist auch die Marokkanerin Amira, die in dem Berliner Pärchen eine Gelegenheit sieht, den Repressionen ihrer frauenfeindlichen Umgebung zu entfliehen: Man benutzt sich gegenseitig. Und kommuniziert aneinander vorbei: Wenn Pia laut darüber nachdenkt, ob sie mit Tom zusammenbleiben will, schlussfolgert Amira: „Schlägt er Dich?“
Es ist diese Konfrontation zwischen der ziemlich deutschen Fixierung auf Befindlichkeiten und orientalischem Pragmatismus, die das Rückgrat von „Tangerine“ bildet. Glücklicherweise werden die Positionen dabei nie platt gegeneinander geschnitten, sondern kommen vielmehr, fein austariert, zu ihrem jeweiligen Recht. Was nicht zuletzt den durchweg überzeugenden Darstellern zu verdanken ist: Nora von Waldstätten liefert mit der katzenäugigen, ihr Umfeld genau taxierenden Pia ein starkes Pendant zu der von Sabrina Ouazani gespielten Amira. Und Alexander Scheer gibt den leicht schluffigen Künstlertypen, der eher haltlos zwischen zwei starken Frauenfiguren hin- und hertaumelt.
Ganze Arbeit leisten auch Kamerafrau Birgit Moeller und der für den Pop-Trance-Soundtrack zuständige Zeid Hamdan. Auf diese Weise ist Irene von Alberti, die zuletzt für eine Episode in dem Berlin-Film „Stadt als Beute“ (fd 37 116) verantwortlich zeichnete, mit ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm eine schöne, kluge und sehr sinnliche Reflexion über Nähe und Distanz zwischen Abend- und Morgenland gelungen.
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