Der fremde Sohn (2008)

Drama | USA 2008 | 142 Minuten

Regie: Clint Eastwood

Eine alleinstehende Mutter kämpft gegen die Gleichgültigkeit und Voreingenommenheit eines korrupten Polizeiapparats um die Rückkehr ihres spurlos verschwundenen Kindes. Der nach einem tatsächlichen Fall aus den späten 1920er-Jahren erzählte Film vermeidet weitgehend jede zusätzliche Dramatisierung und unterläuft erfolgreich sentimentale Erwartungshaltungen. Die zweite Hälfte des langen Films krankt an einigen Klischees, was ihn aus seinem inszenatorischen Gleichgewicht zu bringen droht. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE CHANGELING
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Malpaso Prod./Imagine Ent./Relativity Media
Regie
Clint Eastwood
Buch
J. Michael Straczynski
Kamera
Tom Stern
Musik
Clint Eastwood
Schnitt
Joel Cox · Gary D. Roach
Darsteller
Angelina Jolie (Christine Collins) · John Malkovich (Rev. Gustav Briegleb) · Amy Ryan (Carol Dexter) · Geoff Pierson (S.S. Hahn) · Jeffrey Donovan (Capt. J.J. Jones)
Länge
142 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Universal (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Wenn zu Beginn des Films das Emblem des Universal-Studios nicht in Farbe und Stereoton auf der Leinwand erscheint, sondern als das schwarz-weiße Logo aus der Anfangszeit der Firma, dann weiß ein aufmerksames Publikum, was es von „Der fremde Sohn“ (im Original „Changeling“) zu erwarten hat. Clint Eastwood erzählt hier eine in Zeitungsarchiven üppig dokumentierte Geschichte aus den späten 1920er-Jahren, und er tut das nicht mit dem Ehrgeiz, sie zusätzlich zu dramatisieren oder heutigen Erwartungen anzupassen. Selbst amerikanische Kritiker haben sich beklagt, dass der Film keinen richtigen „Höhepunkt“ besitze. Doch ganz offenkundig geht es Eastwood nicht darum, die gewundene Story filmisch auszuschlachten. Er entwickelt sie vielmehr aus sich selbst, wie ein Fluss, der seinen eigenen Weg findet. Einem Publikum, das durch den Überkonsum von Effekt-Filmen desensibilisiert ist, mag das vielleicht zu schlicht und zu langatmig sein. Der Fall, der dem Film zugrunde liegt, hatte einst jahrelang für Schlagzeilen in der kalifornischen Presse gesorgt. Es ist eine Geschichte, die fast banal beginnt, dann aber eine Dimension annimmt, die an Filme wie „L.A. Confidential“ (fd 32 868) erinnert. Christine Collins ist eine alleinstehende Frau, die sich neben ihrer Arbeit als Aufseherin bei der örtlichen Telefongesellschaft ganz der Erziehung ihres neunjährigen Sohnes Walter widmet. Als sie eines Tages verspätet nach Hause zurückkehrt, ist Walter verschwunden. Sie sucht die Nachbarschaft ab und bittet die Polizei um Hilfe, die ihr erst am nächsten Tag reichlich unwillig gewährt wird. Das Kind bleibt verschwunden, was für den politisch aktiven Pfarrer der benachbarten Presbyter-Gemeinde ein weiteres Beispiel für Selbstgefälligkeit und Schlendrian der Polizeibehörde ist. Fünf Monate später erscheint jedoch, schon kaum noch erwartet, ein Polizeicaptain bei Christine, der ihr verkündet, man habe Walter gesund und unbeschadet in Illinois gefunden. Die Polizei ist begierig, den Fall zur Rehabilitierung ihres angeschlagenen Rufs zu nutzen, um von den Korruptionsvorwürfen abzulenken, die in der Öffentlichkeit kursieren. Sie lädt die Presse zur Ankunft des wiedergefundenen Kindes auf den Bahnhof ein. Doch der kleine Junge, der dem Zug entsteigt und sich Christine in die Arme wirft, ist nicht der vermisste Sohn. Als Christine darauf beharrt, der kleine Fremdling, der sich bei ihr eingenistet hat, sei nicht ihr Walter, versucht die Polizei, sie zu diskreditieren und als geistig gestört hinzustellen. Selbst unabweisbare Fakten und Zeugen, mit denen Christine aufwartet, werden nicht ernst genommen. Ihre zunächst zögerlichen, dann nachdrücklicher werdenden Vorwürfe, die Polizei versuche aus eigennützigen Gründen, ihr ein anderes Kind zu unterschieben, führen zu ihrer Einweisung in die Psychiatrie. Die Geschichte ist damit nicht zu Ende, sondern tritt in eine neue, unerwartete Phase ein. Sie kreuzt sich mit der Entdeckung eines Massenmörders, einer Art Jeffrey Dahmer der frühen 1930er-Jahre, die schließlich Aufklärung über Walters Schicksal bringt. Es ist ein komplexes Geflecht aus Melodrama, Polizei- und Horror-Story, das Clint Eastwood in „Changeling“ zu verarbeiten hatte, und es wundert nicht, dass die Fäden der Handlung manchmal nicht ganz nahtlos ineinander greifen. Der beste, auch künstlerisch überzeugendste Teil ist der Anfang. Schwarz-weiße Dokumentaraufnahmen und in fahlem Graugrün nachgedrehte Straßenszenen verleihen dem Film sogleich die notwendige Authentizität. Die Konzentration auf einige wenige Hauptfiguren erweckt Anteilnahme beim Publikum, der bedächtige Fluss der Handlung insinuiert Ernst und Aufrichtigkeit der Autoren. Gleich von der ersten Szene an nimmt man ihnen ab, dass sie nichts hinzufügen und auch nichts weglassen werden, was für die in Gerichtsakten und Zeitungsarchiven überlieferte Geschichte von Bedeutung ist. Solches Vertrauen hat „Changeling“ allerdings bitter nötig, sobald es um die Ausgestaltung der Psychiatrie- und Mordszenen geht. In beiden Bereichen droht der Film sein Gleichgewicht zu verlieren. Der eine sieht einer unnötig detaillierten „Schlangengrube“-Imitation ähnlich, der andere sympathisiert mit Klischeebildern des konventionellen Horrorkinos. Von solchen Ausrutschern vermag sich der Film bis zu seinem halbwegs versöhnlichen Finale nicht mehr richtig zu erholen. Streiten lässt sich auch über die beständigen Großaufnahmen von Angelina Jolie, die durch Haltung und Make-up zu einer zweiten Ida Lupino hochstilisiert wird, ohne dass sie dadurch den Frauentyp der Zeit besser treffen würde. Was am meisten für „Changeling“ einnimmt, ist die Kunstfertigkeit, mit der die Inszenierung alle sentimentalen Erwartungen unterläuft. Clint Eastwood hat sich schon in vielen früheren Filmen als ein Meister präziser, entsentimentalisierter Stimmungsbilder bewiesen. Dieses Talent, Anteilnahme für Charaktere und Situationen zu entwickeln, ohne sie emotional auszuplündern, behält auch diesmal über weite Strecken die Oberhand. Dadurch bleiben gerade die undramatischsten Szenen am eindrücklichsten in Erinnerung. Wäre der ganze Film dem inszenatorischen Prinzip seiner ersten Stunde gefolgt, so hätte er vielleicht das Zeug zu einem großen Eastwood-Film besessen. So, wie er ist, muss man sich mit einem ungleichgewichtigen Film zufrieden geben, der trotz seiner Mängel immer noch mehr Respekt verdient als die meisten aktuellen Hollywood-Produkte, deren Macher es nicht einmal mehr verstehen, eine Geschichte glaubwürdig zu erzählen.
Kommentar verfassen

Kommentieren