Kinder. Wie die Zeit vergeht

Dokumentarfilm | Deutschland 2007 | 86 Minuten

Regie: Thomas Heise

Seinen dritten filmischen Besuch in der ehemaligen Chemie-Region von Halle und Leipzig benutzt der Dokumentarfilmer Thomas Heise zur vorläufigen Bilanz einer Langzeitbeobachtung, die prüft, was aus den Träumen, Visionen und Ängsten seiner einstigen Gesprächspartner geworden ist. Der schwarz-weiße Film zeichnet das eher triste Bild von Menschen, die in einer Art kollektiven Starre verharren. Trotz einiger überstilisierter Sequenzen ein in sich stimmiges Werk, das seine Protagonisten nie vorführt, ihnen vielmehr ihre Würde belässt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
ma.ja.de/Ö Filmprod./MDR
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Börres Weiffenbach
Schnitt
Karin Schöning · Trevor Hall
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
GMfilms (FF, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Eine lange, nächtliche Kamerafahrt entlang eines gigantischen Raffineriekomplexes, der durch Tausende von Lichtern fast schon unwirklich erleuchtet ist. Danach ein schmuckloser Wohnblock, durch dessen Fenster man Menschen ihren abendlichen Verrichtungen nachgehen sieht. Dann sitzt eine junge Frau am Tisch, erzählt aus ihrem Leben, von der Suche nach Arbeit, der Trennung von ihrem Freund und Problemen mit ihren beiden Söhne. Über Paul, den jüngeren, sagt sie, dass er „noch zu retten sei“, wohingegen sein Bruder Tommy äußerst „lebhaft“ und „frech“ sei und sie an ihn nicht mehr rankomme. „Schade drum“, fügt sie achselzuckend hinzu. Diese Szenen stammen aus Thomas Heises Dokumentarfilm „Neustadt“ aus dem Jahre 2000. Damals war Tommy noch in der Grundschule. Acht Jahre später sieht man ihn, inzwischen 15 Jahre alt, nun mit einem Lehrer über einen Antrag reden, der es ihm ermöglichen soll, weiterhin eine Schule zu besuchen, obwohl er seine neun Pflichtjahre bereits hinter sich hat, aber über die siebte Klasse nicht hinausgekommen ist. Tommy gelobt zwar Besserung, spricht davon, KFZ-Mechaniker werden zu wollen, macht aber nicht den Eindruck, es damit wirklich ernst zu meinen. Seiner Mutter Jeanette scheint es hingegen besser zu gehen als damals. Sie hat einen Job als Busfahrerin, einen neuen Freund und mit ihm eine kleine Tochter. „Ein Wunschkind“, sagt sie. Im Gegensatz zu Tommy lebt der zehnjährige Paul noch bei ihr, ist ein guter Schüler, hat aber keine Lust, aufs Gymnasium zu gehen. Nach „Stau – Jetzt geht’s los“ (fd 30241) und „Neustadt“ wendet sich Thomas Heise in seinem auf Schwarzweiß gedrehten Film nun zum dritten Mal den Menschen in der ehemaligen Chemie-Region der DDR zwischen Halle und Leipzig zu. Nach dem Prinzip einer Langzeitbeobachtung prüft er, was aus ihren Träumen, Visionen und Ängsten geworden ist. Die Geschichten, die sie erzählen, klingen zumeist wie Berichte aus Lebensläufen, die mangels beruflicher Perspektiven frühzeitig einen Knick bekamen. Doch nicht nur die Menschen, die hier in einer Art kollektiver Starre verharren, sondern der ganze Landstrich scheint unter einer bleiernen Last darniederzuliegen. Immer wieder montiert Heise zwischen die Gesprächssituationen lange Kamerafahrten entlang trister, heruntergekommener Plattenbauten, Bilder von zugemüllten U-Bahnhöfen oder ikonografische Szenen wie die eines blinkenden Geldautomaten, an dem ärmlich gekleidete Menschen achtlos vorbeigehen oder das Bild einer defekten Bahnhofsuhr als Sinnbild des Stillstands. Wenn die Kamera bei trüber Witterung – auch das Wetter scheint sich in dieser Region der Befindlichkeit der Bewohner anzupassen – das Dach einer Haltestelle ins Bild nimmt und die Außengeräusche des Straßenverkehrs ausgeblendet werden, damit ein einzelner Regentropfen vom undichten Dach aus sicht- und hörbar in eine Pfütze fallen kann, dann bewegt sich diese Bildsprache allerdings am Rande des Geschmäcklerischen. Warum der Regisseur den kleinen Paul beim Meisterschaftsspiel seines Clubs (offenbar mit Duldung des Schiedsrichters) mit der Kamera auf das Spielfeld verfolgt und dabei das Keuchen des (vermutlich verkabelten) Nachwuchskickers hören lässt, erschließt sich auch nicht so ganz. Doch derart überstilisierte Sequenzen sind eindeutig die Ausnahme: In erster Linie interessiert sich Heises stilistisch weitgehend stimmiger Film für seine Protagonisten, denen er hin und wieder Fragen aus dem Off stellt, sie aber ansonsten einfach erzählen lässt. Auch wenn die Kamera bei einem Besuch bei Jeanettes Eltern ausgiebig über Häkeldeckchen und sonstigen Einrichtungsnippes wandert, führt sie die Menschen nie in jener widerwärtigen Manier vor, wie sie seit geraumer Zeit im kommerziellen Fernsehen üblich ist, das Menschen am Rande der Gesellschaft als preiswerte Darsteller in pseudoempathischen Doku-Soaps benutzt.
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