Irgendwann in den 1970er-Jahren hat jemand an eine Wand geschmiert: „Clapton ist Gott.“ Doch darüber konnten die Jünger Bob Dylans schon damals nur müde lächeln. Wie ein Heiland wurde der Folk-Sänger auf der Bühne des Newport Festivals begrüßt – und vier Jahre später, nach seiner Konvertierung zur elektrischen Gitarre, als Judas seiner eigenen Kirche geschmäht. Heute erlebt man staunend Dylans Wiedergeburt auf allen Medienkanälen: als lebende Legende, Maler, Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis und natürlich als weißer Wal der jüngeren Musikgeschichte. So viele Biografen haben sich an Dylans Wandlungen die Zähne ausgebissen, dass Todd Haynes’ „I’m Not There“ beinahe wie eine Erleuchtung wirkt. Gleich sechs Schauspieler suchen in diesem Anti-Biopic nach ihrem Gegenstand und lassen dabei nicht einmal dessen Namen fallen. Auch das passt ins Bild der dylanschen Auferstehung: Du sollst Dir kein Bildnis machen.
Der erste Blick auf den abwesenden Bob Dylan fällt auf einen elfjährigen Schwarzen. Er springt auf einen fahrenden Zug auf und versetzt die Landstreicher mit dem Pathos der großen Depressionszeit in Erstaunen. Später besucht er die verarmte Folk-Legende Woody Guthrie an dessen Totenbett und erhält von einer Ersatzmutter den entscheidenden Rat fürs Leben: „Sing nicht von früher, sing von deiner eigenen Zeit.“ Beherzigt wird dieser Ratschlag in „I’m Not There“ vom Protestsänger Jack Rollins, den Christian Bale spielt, als habe ihm jemand wortlos eine Gitarre in die Hand gedrückt und vor die Kamera geschoben. „Alles was ihr von mir wollt“, klagt Rollins den Reportern, „sind gesungene Fingerzeige“, und verabschiedet sich mit einer drogenhaltigen Schmährede in die Obskurität der wiedergeborenen Christen.
Der Überdruss am eigenen Erlöser-Status ist der rote Faden durch das filmische Labyrinth von „I’m Not There“. Er führt über biografische Sprünge und inszenatorische Klippen hinweg von einer Figur zur anderen, von Jack Rollins zu Cate Blanchetts elektrifiziertem Superstar, der mit der Maschinenpistole symbolisch auf das entsetzte Folk-Publikum anlegt und zur Strafe dafür von einem snobistischen BBC-Reporter mit Fragen zur gesellschaftlichen Verpflichtung des Künstlergenies verfolgt wird. Nicht viel besser ergeht es dem verheirateten Schauspieler Robbie, der sich als neuer James Dean gefeiert sieht und viel lieber seine Ehe retten würde. Den weitesten Weg hat Bob Dylan in der Figur des gealterten Billy the Kid zurückgelegt: Richard Gere reitet durch einen wilden Westen, der Sam Peckinpah mit Federico Fellini kreuzt, um am Ende auf einen fahrenden Zug aufzuspringen und den erzählerischen Kreis zu schließen.
Der Filmtitel lässt sich auch als Warnung verstehen: Wer den künstlerischen Weg Bob Dylans nicht in- und auswendig kennt, wird sich in dieser Phantasmagorie nur schwer zurechtfinden. „I’m Not There“ steckt voller Anspielungen für Eingeweihte, die sich nahtlos in die wissenschaftlich betriebene Dylanologie der letzten Jahre einfügen. Ganz im Gegensatz zu dieser subtilen Webkunst steht freilich Todd Haynes’ schreiende Plakatierung seiner filmischen Botschaft: „Ich bin ein Anderer“, sagt der sechste Dylan und schlägt den Bogen zum poète maudit Arthur Rimbaud. Im Grunde haben auch die übrigen Stellvertreter eine genau definierte Funktion: Da sind der junge Dylan, der klassische Protestsänger, der Ausreißer, der private Ehemann und der müde Held, der sich von der großen Musikbühne zurückzieht. Die biografische Ordnung seines Films hat Haynes mit avantgardistischer Entschiedenheit in den Häcksler gesteckt und die Puzzleteile anschließend schön schräg wieder zusammengesetzt. Beim ersten Sehen kann man deshalb durchaus den Eindruck gewinnen, es mit einem leblosen Konzeptfilm zu tun zu haben, doch setzen sich mit der Zeit immer mehr einzelne Szenen im Gedächtnis fest: Julianne Moores Auftritt als fiktive Joan Baez etwa, die eine inszenierte Dokumentation über Jack Rollins erhellt, oder Charlotte Gainsbourg, die als alleingelassene Ehefrau beinahe das Ende des Vietnam-Kriegs im Fernsehen verpasst. Überhaupt ist das Schauspieler-Ensemble die beste Maskerade, die man sich in diesem Fall nur wünschen kann – das Pirandello-Sextett sticht sogar den mit Cover-Versionen gespickten Soundtrack aus. Cate Blanchett stürzt sich mit wildem Haar in eine formidable Dylan-Travestie, während die männlichen Darsteller ohnehin vom mürrischen Schlag sind und es sich leisten können, ihren Text mehr oder weniger nur aufzusagen. So erscheint das Kino als vertracktes Versteckspiel – eine Vorstellung, die auch dem Weltflüchtling und Gelegenheits-Schauspieler Bob Dylan gut gefallen könnte.