Dokumentarfilm über die Geschichte der Berliner Philharmoniker in den Jahren zwischen 1933 und 1945, der belegt, dass das renommierte Vorzeige-Orchester bereits vor 1933 "judenfrei" war, und anhand von Dokumentaraufnahmen die Aufhebung einer immer wieder behaupteten Grenze zwischen autonomer Kunst und politischer Propaganda beschreibt. Der außergewöhnliche, höchst materialreiche Film hat sich nicht der Schuldzuweisung verschrieben, sondern bereitet aufmerksam Fakten im Sinne der Wahrheitsfindung auf.
- Sehenswert ab 16.
Das Reichsorchester
Dokumentarfilm | Deutschland 2007 | 90 (TV 43) Minuten
Regie: Enrique Sánchez Lansch
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2007
- Produktionsfirma
- Eikon Media/rbb
- Regie
- Enrique Sánchez Lansch
- Buch
- Enrique Sánchez Lansch
- Kamera
- Fariba Nilchian
- Schnitt
- Thomas Wellmann
- Länge
- 90 (TV 43) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
„Der früher oft gegen uns vorgebrachte Einwand, es gäbe keine Möglichkeit, die Juden aus dem Kunst- und Kulturleben zu beseitigen, wenn deren zu viele seien und wir die leeren Plätze nicht neu besetzen könnten, ist glänzend widerlegt worden.“ Dieser Satz aus einer Rede von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ist früh zu hören in dieser Dokumentation über die Geschichte der Berliner Philharmoniker zwischen 1933 und 1945. Wobei ein weiteres Mal gilt, dass die Geschichte sich nicht an klare Zäsuren hält, denn das Vorzeigeorchester war bereits vor 1933 – wie es einmal heißt – weitgehend „judenfrei“ sowie ästhetisch auf Kurs und hatte nach 1945 unter dem Furtwängler-Nachfolger Herbert von Karajan lange Jahre wenig Interesse an einer „Selbstaufklärung“, wie die gleichnamige, den Film aufs Beste ergänzende Studie des kanadischen Historikers Misha Aster belegt (Siedler Verlag, 2007). Der sehenswerte Film von Enrique Sánchez Lansch („Rhythm Is It!“, fd 36683) konzentriert sich ganz auf die Zeit des NS-Regimes, zeichnet exemplarische Biografien kursorisch nach, lässt widersprüchliche Erinnerungen unkommentiert, aber aussagekräftig nebeneinander stehen und erzählt davon, wie die Aufhebung einer unterstellten Grenze zwischen autonomer Kunst und deren Indienstnahme durch politische Propaganda möglich wurde, und wie sich diese Entwicklung auf die Individuen im Orchesterkollektiv auswirkte. „Politisch denken war ein Tabuthema“, heißt es einmal. „Kein Mensch konnte sich vorstellen, dass jemand aus irgendwelchen nicht-musikalischen Gründen das Orchester verlassen musste“, ein anderes Mal. Rückblickend ist man sich sicher, die Jahre zwischen 1933 und 1945 „wie unter einer musikalischen Glasglocke“ verbracht zu haben.
Die Privilegien als Mitglied des Renommierorchesters waren enorm: Man ging noch lange auf Reisen, fungierte als „Sendbote deutscher Kunst in Ländern, die friedlich erobert werden müssen“, und wurde in Kriegszeiten „uk“-gestellt, als „unabkömmlich“ eingestuft und vom Fronteinsatz befreit. Je näher die Front rückte, desto unangenehmer wurden diese Privilegien im Alltag erlebt. Nicht zuletzt aber genoss man den Vorzug, mit Wilhelm Furtwängler arbeiten zu dürfen – nicht das schlichteste Argument für Musiker, die Sätze sagen wie: „Als Künstler, als Musiker stand man diesen Dingen so fern. Wenn man so in der Musik drinsteckt, interessieren einen diese politischen oder staatlichen Dinge eigentlich gar nicht.“ Andererseits war da die unverhohlene Instrumentalisierung des Orchesters durch den Staat. Die Philharmoniker spielten zwischen 1937 und 1944 jährlich zu Hitlers Geburtstag, bei der Olympiade 1936 und auf „Kraft durch Freude“-Veranstaltungen; die Musiker konnten live erleben, wie die Musikhistorie „arisiert“ wurde, wenn Mendelssohn-Porträts entfernt wurden, wenn „Ariernachweise“ wichtig wurden, bekannte jüdische Kollegen spätestens ab 1934 aus dem Orchester verschwanden.
„Das Reichsorchester“ stellt hier exemplarisch die Frage: Wie lebt man damit? Und sammelt polyphone Antworten aus erster und auch zweiter Hand. Dabei zeigt der Film sehr schön, wie man einen sich als unpolitisch verstehenden Orchesterkörper durch eine Hand voll expliziter Parteigänger unter Kontrolle bekommt, wie das Innenleben eines Orchesters zum Gegenstand von Überwachung und (Psycho-)Terror wird und Widerstand nur noch als Verdrängung denkbar scheint. Früh schon kursierten Gerüchte über „Konzertlager“, wo Musikerkollegen in Klausur zu gehen hatten. Enrique Sánchez Lansch hat seine packende, weil komplexe Oral History durch Einbezug weiteren Archivmaterials „objektiviert“, zeigt durch Wochenschau-Szenen, wie das Orchester zum Teil der Propaganda-Maschinerie wurde, zeigt Aufritte von Goebbels, Hitler und Göring zusammen mit den Philharmonikern, aber auch Konzert- und Tourneeberichte, die ein bestimmtes Kunstverständnis filmisch transportieren. Dieses pathetische Kunstverständnis erscheint ein weiteres Mal, diesmal fiktionalisiert und gespiegelt, in einigen Ausschnitten aus Paul Verhoevens „Philharmoniker“ (1944, fd 3982). Durch die präzise Machart, den Verzicht auf einen kommentierenden, besserwisserischen oder gar Schuld zuweisenden Off-Kommentar und seinen bemerkenswerten Materialreichtum (der nie zur banalen Überwältigungsdramaturgie à la Guido Knopp instrumentalisiert wird) gelingt Lansch eine bemerkenswerte kultur- und auch mentalitätsgeschichtliche Tiefen-bohrung auf jahrzehntelang vermintem Gelände.
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