Eine verhuschte, ältliche Hausfrau aus dem kleinbürgerlichen Milieu einer Londoner Vorstadt nimmt einen "handfesten" Job im Rotlicht-Distrikt Soho an, um mit den dank ihres Erfolgs wachsenden Einnahmen ihrem kleinen Enkel eine lebensrettende Operation in Australien zu finanzieren. Nach und nach gewinnt sie dabei an Selbstbewusstsein und ändert grundlegend ihr eigenes Leben. Eine ebenso amüsante wie anrührende, in der Hauptrolle virtuos gespielte Tragikomödie, die sich trotz inszenatorischer Glätte stets ihre Ecken und Kanten bewahrt. Ebenso nachdenklich wie satirisch lustvoll spielt der Film mit den bigotten Moralvorstellungen des britischen Bürgertums.
- Sehenswert ab 16.
Irina Palm
Tragikomödie | Großbritannien/Frankreich/Belgien/Luxemburg/Deutschland 2006 | 103 Minuten
Regie: Sam Garbarski
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Filmdaten
- Originaltitel
- IRINA PALM
- Produktionsland
- Großbritannien/Frankreich/Belgien/Luxemburg/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Ipso Factor/Liaison/Entre Chien et Loup/Ateliers de Baere/RTBF/Samsa/Pallas
- Regie
- Sam Garbarski
- Buch
- Martin Herron · Philippe Blasband
- Kamera
- Christophe Beaucarne
- Musik
- Ghinzu
- Schnitt
- Ludo Troch
- Darsteller
- Marianne Faithfull (Maggie) · Miki Manojlovic (Miki) · Kevin Bishop (Tom) · Siobhán Hewlett (Sarah) · Dorka Gryllus (Luisa)
- Länge
- 103 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Tragikomödie
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Heimkino
Die Extras enthalten u.a. die komplette Pressekonferenz der "Berlinale" (51 Min.), auf der der Film Premiere hatte sowie ein Feature mit einer im Film nicht verwendeten Szene (1:30 Min.) und einem alternativen Filmende (1:30 Min.).
Diskussion
Ist dieser Film vielleicht zu perfekt? Auf der Suche nach Erklärungen dafür, weshalb Sam Garbarskis („Der Tango der Rashevskis“, fd 36 873) wundervolle Komödie „Irina Palm“ bei der offiziellen Preisvergabe der „Berlinale“ 2007 leer ausging, könnte man jedenfalls auf diesen Gedanken kommen. Der Film sei zu glatt, zu leicht, hieß es in Berlin; für die politische „Berlinale“ wohl zu seicht. Möglicherweise also fiel einer der besten Beiträge eines insgesamt eher mauen Wettbewerbs deshalb durchs Jury-Raster. Eigentlich aber fehlt es „Irina Palm“ an gar nichts, nicht einmal an Ecken und Kanten. Der Film bietet großartige Kinounterhaltung: frisch, frivol und märchenhaft hoffnungsfroh. Worum geht es in dieser zugleich rotzfrechen und doch liebenswerten Tragikomödie? Um eine „wichsende Witwe“! Im Mittelpunkt des Films steht Maggie, eine britisch-biedere Mitfünfzigerin, die sich in einem Rotlichtclub verdingt, um ihrem sterbenskranken Enkel eine teure ärztliche Behandlung in Australien zu finanzieren. Das Nebeneinander von steifen Teekränzchen und Bridge-Nachmittagen im Londoner Vorort-Mittelstand einerseits und dem schmierigen Sexclub „Sexy World“ in Soho auf der anderen Seite beschreibt die enorme und äußerst ertragreiche humoristische Fallhöhe. Das Drehbuch reizt diese Gegensätze bis zum Anschlag aus, ohne zu überziehen. Dank Marianne Faithfulls großartiger Darbietung gelingt es Maggie, wie selbstverständlich zwischen den beiden widersprüchlichen Lebenswelten zu changieren.
Eine „Hostess“ wird in der Stellenanzeige gesucht, auf die Maggie sich bewirbt. Naiv und wenig welterfahren stellt sich die junge Oma alles Mögliche darunter vor, nur nicht das, worauf es Miki, der zwielichtige Geschäftsführer des Clubs, der die Annonce aufgab, abgesehen hat. Zunächst also ist die Witwe schockiert, als der von Miki Manojlovic kongenial gespielte Zuhälter ihr erklärt, dass er Frauen beschäftigt, die Männer manuell befriedigen. Als Miki aber seinen spröden Charme spielen lässt und Maggies sanfte Hände lobt, fühlt sie sich irgendwie geschmeichelt. Es scheint fast, als habe sie etwas entdeckt, was ungeahnt in ihr schlummerte, etwas, das ihr bislang niemand zutraute: ein Talent. Die allerdings nicht ganz salonfähige Gabe, Männer mit der Hand zu befriedigen. Zögerlich lässt sich Maggie von einer jungen Kollegin den Ablauf erklären. Jede Frau sitzt in einer abgetrennten Kabine, die auf einer Seite ein Loch hat. Den Rest kann man sich denken, gezeigt wird er nicht. Zu sehen ist nur, wie sich Maggie die Hände mit Gleitmittel einreibt, und wie sie, wenn sie bereit ist, auf einen Knopf drückt, dann erschrocken das Gesicht verzieht, als das Loch sich auftut, und endlich entschlossen zur Wand greift. Schon bald beherrscht Maggie ihr Handwerk so ausgezeichnet, dass sich vor ihrer Kabine eine Schlange bildet und sie einen eigenen Künstlernamen erhält: „Irina Palm“. Maggie richtet sich in ihrem Kämmerchen häuslich ein, bringt ein paar Blümchen mit, ein Spitzendeckchen, hängt Bilder auf. Alles läuft wie am Schnürchen, das Geld fließt, und auch zwischen Miki und Maggie bahnt sich etwas an. Doch dann stellen sich Schwierigkeiten ein. Miki entlässt unrentable Kolleginnen, denen Maggie die Kunden „weggeschnappt“ hat. Mitten im Hochbetrieb macht plötzlich Maggies rechte Hand schlapp. Diagnose: „Penisarm“. Sie macht so gut es geht mit links weiter, aber die Probleme hören nicht auf. Ihr Doppelleben lässt sich nicht länger geheim halten.
In einer herrlichen, schreiend-komischen Szene, einem Frontalangriff auf jede Doppelmoral, legt Maggie gegenüber ihren scheinheiligen Bridge-Gefährtinnen die Karten auf den Tisch. Bei ihrem neuen Job könne es sich ja bloß um irgendetwas Langweiliges handeln, stichelt die Gastgeberin zunächst noch. Worauf Maggie kurz und knapp erklärt: „Ich wichse Männer.“ Um etwas später zurückzufragen: „Ist das langweilig genug?“ Die drei Frauen geben sich jetzt entsetzt, möchten es dann aber doch ganz genau wissen und hören mit mädchenhafter Neugier und offenen Mündern zu, während Maggie ihnen alles erläutert. „Ich bin Irina Palm“, prahlt sie stolz, „ich bin die Beste“, und fragt dann gleich wieder im Hausfrauenplauderton: „Darf ich einen Keks haben?“ Der Film ist gespickt mit solchen Pointen. Schlag auf Schlag folgen die Gags aufeinander, und doch reduziert sich der perfekt getimte Plot nicht auf ein oberflächliches Kalauerfeuerwerk. Durch die schwere Krankheit des Enkels und den Streit mit dem Sohn, der schließlich auch vom Job seiner Mutter erfährt, erhält die Geschichte ebenso zusätzliche Konturen wie durch die zögerliche, liebevoll entfaltete Romanze zwischen Maggie und ihrem Boss. Vor allem die köstlich-kritische Auseinandersetzung mit den Moralvorstellungen des britischen Bürgertums verleiht dem Film den nötigen Tiefgang. Am Ende ergibt das ein kleines Genre-Meisterwerk in Gestalt einer runden, leichthändig inszenierten Tragikomödie. Ein Film zum Weinen vor Glück und Rührung und zum Tränenlachen. Einfach perfekt.
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