Wer hinter dem Titel einen „niedlichen“ Kinderfilm nach dem leider immernoch weit verbreiteten Genreverständnis vermutet, sei gewarnt: Er sollte sich nicht von den betörenden Bildern einer sommerlichen Idylle im ländlichen Dänemark des Jahres 1969 täuschen lassen und nicht das Sedativum einer heilen Welt erwarten. In „Der Traum“ geht es vielmehr richtig „zur Sache“: Diese mitreißende Hymne auf Gerechtigkeit, Zivilcourage und Durchsetzungsvermögen erzählt von Angst und Wut, von körperlichem wie seelischem Schmerz, von Erniedrigung und tiefer seelischer Verwundung, vom Verlassensein und von Hoffnungslosigkeit – aber sie handelt auch von der beflügelnden Kraft eines Traums, von Hoffnung und Mut, von richtigen Vorbildern und vom geradezu emphatischen Sieg über die eigene Angst sowie über die Tyrannei und Unterdrückung durch hartherzige Erwachsene.
Am Ende der Sommerferien wartet auf den 13-jährigen Frits die größte Bewährungsprobe seines jungen Lebens. Sein Vater ist in der kleinen Gemeinde ein allseits respektierter Landwirt, seine Mutter arbeitet als Schulkrankenschwester, und mit ihnen und seinen beiden kleineren Schwestern genießt Frits die Harmonie des intakten Familienlebens. Zwei Katastrophen ändern mit einem Schlag alles: Sein Vater erkrankt an einer schweren Depression und wird in die Psychiatrie eingeliefert, und das ausgerechnet, als Frits an eine neue weiterführende Schule kommt, wo ein wahres Ungeheuer von Feind lauert: Schulleiter Lindum Svendsen, seit 25 Jahren im Amt, ist berüchtigt und gefürchtet für seine strenge Hand, mit der er seinen Schutzbefohlenen Vaterlandsliebe, korrektes Verhalten und Disziplin wortwörtlich einbläut. Frits, ein introvertierter Junge, der in den Ferien nicht einmal „ordentlich“ verreiste, sondern daheim den neuen Fernseher als „Fenster zur Welt“ – und vor allem auf die politische Aufbruchstimmung, auf Hippies, Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen – entdeckte, gerät mit seinen zu langen Haaren schnell in Svendsen Visier. Auch bei seinen Mitschülern wird Frits bald zum verlachten Außenseiter: ein widerständiger Kerl, der nicht so sein will wie die anderen, einfach weil er lieber ganz er selbst ist, der einen „komischen“ Schwarzen namens Martin Luther King verehrt und sich Gedanken über die trügerische Gerechtigkeit auf dieser Welt macht. Nach einem höchst derben Streich der Mitschüler wird Frits zum Sündenbock und von Svendsen aufs Schlimmste gezüchtigt: Der reißt ihm das halbe Ohr ab, die schmerzhafte, blutige Wunde muss genäht werden. Die Dinge scheinen sich zu bessern, als der Vater zurückkehrt, Frits sich in die hübsche Iben aus seiner Klasse verliebt und ein unkonventioneller neuer Lehrer an die Schule kommt: Freddie Svale lässt sich von den Kindern duzen, hat an Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg in Kopenhagen teilgenommen, unterrichtet Rock-Musik – und hat Schallplatten mit den Reden von Martin Luther King. Doch nichts ändert sich allzu schnell, kein Schalter lässt sich kippen, um die Schmach und Pein von heute auf morgen abzustellen. Der tyrannische Schulleiter bleibt der, der er ist – und die anderen Erwachsenen taktieren, wägen ab, sind schwach oder mutlos, desinteressiert oder angepasst. Warum sollte ein fragender und suchender Junge ernster zu nehmen sein als das ganz schöne „System“, das sich doch all die Jahre bewährt hat?
„Der Traum“ ist ein emotional aufwühlender Film über eine Zeit massiver politischer Umbrüche. Überlebte Strukturen werden in Frage gestellt, man hört von politischen Unruhen, weltweiten Demonstrationen gegen Krieg, Unterdrückung und Rassendiskriminierung, was für Frits zunächst noch sehr abstrakt ist, ihn aber zunehmend in Bann schlägt. „I have a dream – Ich habe einen Traum“, predigt King, und das hat etwas sehr Konkretes mit Frits zu tun, der sich an so vielen Fronten wehren und behaupten muss. Zwar wurde die Prügelstrafe an dänischen Schulen in der Realität bereits 1967 abgeschafft, doch die Veränderungen setzten sich bis in die Provinz nur langsam durch – ganz abgesehen davon, dass die Praxis versteckter seelischer Gewalt (wie die Ausgrenzung durch Gleichaltrige) auch heute noch existiert und nach wie vor ein authentisches Problem unter Schülern ist. Frits ist insofern ein durch und durch moderner Junge auf der Suche nach Orientierung, nach Werten, Verständnis und Solidarität. Vorübergehend sogar von seiner Familie und der von den Umwälzungen verunsicherten Gemeinschaft entfremdet, muss er allein auf sich gestellt seine Ängste überwinden, sich zum Widerstand durchdringen und der schmerzlich spürbaren Gewalt entgegentreten. „Der Traum“ ist aufwändiges, hervorragend interpretiertes und inszeniertes (Gefühls-)Kino, das in seiner Kraft an die frühen kämpferischen Filme eines Bo Widerberg gemahnt. Und: Es ist eine der ergreifendsten Vater-Sohn-Geschichten des Kinos – ein Ringen um gegenseitigen Halt, Kraft und Lebenssinn, bei dem Jung und Alt stets gleichberechtigt sind. Ein Traum.