Eine Sicherheitsangestellte der Videoüberwachung in Glasgow erkennt auf einem ihrer Monitore jenen Mann, der den Tod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter verschuldet hat. Sie verlässt die Sicherheit ihres Beobachtungspostens und folgt dem Fremden in die Glasgower Vorstadt, wo sie mit der Verlorenheit und der trotzigen Hoffnung der Bewohner konfrontiert wird. Obwohl ihr Feindbild ins Wanken gerät, sinnt sie auf Rache. Der ruhig, nahezu lyrisch erzählte Debütfilm fängt die Szenerie der Stadt in spröder Schönheit ein und hält trotz eines dramaturgischen Bruchs am Ende sowohl die Spannung als auch seinen Zauber.
- Sehenswert ab 16.
Red Road
Drama | Großbritannien/Dänemark 2006 | 114 Minuten
Regie: Andrea Arnold
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Filmdaten
- Originaltitel
- RED ROAD
- Produktionsland
- Großbritannien/Dänemark
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Zentropa Ent./Sigma Films/Advanced Party Scheme
- Regie
- Andrea Arnold
- Buch
- Andrea Arnold · Anders Thomas Jensen · Lone Scherfig
- Kamera
- Robbie Ryan
- Schnitt
- Nicolas Chaudeurge
- Darsteller
- Kate Dickie (Jackie) · Rony Curran (Clyde) · Martin Compston (Stevie) · Andrew Armour (Alfred) · Natalie Press (April)
- Länge
- 114 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 16; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Was für eine faszinierende Perspektive: Da sitzt die Sicherheitsangestellte Jackie in einem kleinen fensterlosen Kabuff vor einer Wand aus Dutzenden Monitoren, mit deren Hilfe sie hinaus in die Welt schaut. Jeder Monitor liefert ihr das Bild einer städtischen Überwachungskamera ins Büro der Glasgower Videoüberwachung. Über eine Tastatur kann sie auf die einzelnen Kameras zugreifen, mit einem Joystick ihre Bewegung steuern. So kann sie Passanten über ganze Straßenzüge hinweg verfolgen, jeden ihrer Schritte beobachten. Nicht nur verdächtige Personen geraten in Jackies Visier. Regelmäßig „trifft“ sie alte Bekannte: die Frau am Fenster, der Mann, der seinen Hund ausführt und stets vor demselben Schaufenster Halt macht. Scheinbar allmächtig klickt, schwenkt und zoomt sich Jackie durch das Viertel in ihrem Zuständigkeitsbereich. Das Szenario könnte an einen von der Weltherrschaft besessenen Bond-Bösewicht erinnern, würde sich in Jackies Lächeln statt kaltem Triumph nicht eher schmerzliche Wehmut abzeichnen. Ihre Distanz zur Außenwelt, die trotz der bildlichen Nähe bestehen bleibt, offenbart sich im Ton, der den Überwachungsbildern fehlt. Ein sinister dröhnender Off-Sound wie aus einem Horrorfilm lädt die Stille bedrohlich auf. Jeden Moment könnte ein Verbrechen geschehen. Jackie müsste hilflos zuschauen. Festhalten kann sie die Täter nur in Großaufnahme. Als sie einmal für ein paar Sekunden unaufmerksam ist, passiert tatsächlich etwas. Ein Mädchen wird niedergestochen. In grobkörnigen, tonlosen Bildern sieht man es blutend auf dem Bordstein zusammensacken. Jackie ruft einen Krankenwagen, dann kann sie nur noch dasitzen, zusehen und hoffen.
Dem Zuschauer geht es kaum anders. Auf raffinierte Weise spiegelt Andrea Arnold im inszenierten Beobachtungsraum der Stadtüberwachung die Erzählperspektive ihres Films. Auch die Figuren wissen meist mehr als der Zuschauer. Auf einen vordergründigen Knalleffekt spekuliert Arnolds „Mystery“-Erzählhaltung allerdings nicht. Stattdessen nimmt ihr Spielfilmdebüt das Publikum mit auf die Suche nach einer tieferen Wahrhaftigkeit unter den Bilderoberflächen. Jackies wohl gehütetes Geheimnis, der gordische Knoten ihres psychischen Traumas entwirrt sich in einer poetisch driftenden, melancholisch schönen Narration. Der Grund dafür, dass Jackie in dem Augenblick, als das Mädchen niedergestochen wurde, nicht hinsah, ist, dass sie auf einem anderen Monitor jemanden zu erkennen glaubte. Einen Mann, der eigentlich im Gefängnis sitzen müsste; jenen Mann, der, wie sich allmählich erahnen lässt, für den Tod von Jackies Ehemann und ihrer kleinen Tochter verantwortlich ist. Auf den ersten Blick vermag sie nicht zu sagen, ob es sich wirklich um ihn handelt. Sie zoomt auf sein Gesicht, holt es näher und näher heran, bis sich das Blow-up in lauter Bildpunkte auflöst. Wenn Spielfilmdebütanten große Meister zitieren, geht das häufig schief, hier aber befindet sich Arnold auf der Höhe Antonionis. Ihr Film verlangte diese Szene, er trägt sie, und er entfaltet über weite Strecken einen solch magischen Sog, dass er den Vergleich mit „Blow Up“ (fd 14 724) nicht scheuen muss. Als Jackie die sicheren vier Wände des Kontrollzimmers verlässt, um in der Welt vor den Überwachungskameras dem Mann, der ihr Leben ruinierte, nachzuspüren und ihm sogar bis in seine Wohnung folgt, mag man sich an einen anderen „Großen“ erinnert fühlen. Wie David Lynchs Jeffrey Beaumont („Blue Velvet“, fad 26 040) taucht die gutbürgerliche Jackie in eine ihr fremde, raue, vulgäre Welt ein. Sie fühlt sich abgestoßen und gegen ihren Willen zugleich angezogen. Hier aber enden die Parallelen. Statt zum doppelbödigen Gangsterfilm schwingt „Red Road“ zum Working-Class-Drama aus. Clydes (so heißt der Mann, den Jackie verfolgt) gutmütig derber Mitbewohner Stevie wird gespielt von Martin Compston, den Ken Loach für „Sweet Sixteen“ (fd 36 009) entdeckte. Gemeinsam hausen sie in einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Rande Glasgows. Die Verlorenheit und die trotzige, whiskygeschwängerte Hoffnung, die im Ghetto herrschen, malt Arnold in Bildern spröder Schönheit.
Nachts hallen die Schreie streunender Füchse durch die Peripherie. Heimlich schmuggelt sich Jackie auf eine Party in Clydes WG. Plötzlich steht die distanzierte Beobachterin inmitten grölender, singender, wütender und trauriger Menschen. Als das Feindbild Clyde ins Wanken gerät, ergreift sie entsetzt die Flucht. Doch sie wird zurückkommen. Lange weiß man nicht, was Jackie mit Clyde verbindet, was sie immer wieder zu ihm treibt. Man ahnt nur, dass sie Rache will. Als ihre Absicht dann klar wird, hält, wie so oft, die Lösung dem Rätsel nicht stand. Jackie rächt sich auf abstruse Weise. Auch die sinnlich-wuchtige Intensität, mit der Arnold, deren Kurzfilm „Wasp“ 2005 mit dem „Oscar“ ausgezeichnet wurde, den Racheakt inszeniert, vermag den Bruch, der hier entsteht, nicht zu kaschieren. Letztlich kann es dem wunderbaren Film aber seinen Zauber nicht rauben. „Red Road“ ist der erste Teil einer Trilogie, die dem „Advance Party“-Konzept folgt, das Lars von Trier, Lone Scherfig und Andres Thomas Jensen entwickelten. In jedem der drei Filme spielen dieselben Schauspieler dieselben Figuren, die von Scherfig und Jensen entworfen wurden. Andrea Arnold und Kate Dickie haben mit ihrem uneitlen Kinodebüt die Messlatte für die nächsten Filme hoch gelegt. „Red Road“ ist ruhig, lyrisch, tiefgründig und dabei spannend wie ein Thriller.
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