Eine 1734 Kilometer lange Schiffsreise von der Mündung des Kongo bei Kinshasa bis zu seinen Quellen. Die Kamera registriert verfallene Zeugnisse der Kolonialzeit an den Ufern, Spuren des Bürgerkriegs, von der Vegetation zurückeroberte Paläste des Diktators Mobutu und wird mit den Folgen der Gewalt in dem zentralafrikanischen Staat konfrontiert. Die Flussfahrt wird zur Metapher für eine Reise in die (koloniale) Vergangenheit des Landes, in der sich wiederum die Gegenwart spiegelt. Der facettenreiche Film vermittelt eine Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke, wobei er trotz der bedrückenden politischen Gegenwart an die Hoffnung und den Glauben an die Zukunft appelliert. (O.m.d.U.)
- Ab 16.
Congo River
- | Belgien/Frankreich 2005 | 116 Minuten
Regie: Thierry Michel
Kommentieren
Filmdaten
- Originaltitel
- CONGO RIVER, AU-DELÀ DES TÉNÈBRES
- Produktionsland
- Belgien/Frankreich
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Les Films de la Passerelle/Les Filmsa d'Ici/XDC/RTBF
- Regie
- Thierry Michel
- Buch
- Thierry Michel · Thomas Cheysson
- Kamera
- Michel Téchy
- Musik
- Lokua Kanza
- Schnitt
- Marie Quinton
Diskussion
„The dark continent. Mystery! Heat! Fever! Cannibals! A blast jungle, in which you could loose half of America“, sprudelt es aus dem Mund des „New York Herald“-Verlegers heraus, als er seinen Reporter auf die Suche nach dem verschollenen Missionar David Livingston schickt. Was in Henry Kings „Stanley and Livingston“ (1939) wie Schlagzeilen von der Leinwand knallt, hat als düsteres Zerrbild Schwarzafrikas auch in der Gegenwart nichts an Griffigkeit verloren. Die Bilder und Meldungen, wie sie beispielsweise der aktuelle Machtkampf im Kongo produziert, scheinen stets aufs Neue zu bestätigen, dass das Inneren Zentralafrikas auf ewig jenes „Heart of Darkness“ ist, dessen Grauen seit Joseph Conrad sprichwörtlich geworden ist. Gegen diesen fatalistischen Gleichklang opponiert der Dokumentarfilm des Belgiers Thierry Michel bereits im Untertitel, der seine Reise zu den Quellen des Flusses Kongo dezidiert als „Au delà des ténèbres“ verstanden wissen will, als eine Art filmische Tiefenlotung, die zwischen den medialen Mega-Klischees und der widersprüchlichen Wirklichkeit nach authentischen Ansichten sucht.
Wie zur Illustration des eigenen Verfahrens taucht eingangs mehrfach die Figur des Lotsen auf, der auf den riesigen Flusskähnen mit einem langen Stock die Fahrrinne sucht. Auf einem dieser schwimmenden Dörfer, das aus einem Schlepper und diversen Barkassen besteht und so ziemlich alles transportiert, was das gewaltige Land beherbergt, hat sich die Kamera niedergelassen; von Kinshasa aus geht es 1734 Kilometer flussaufwärts bis nach Kinsangani in den Norden des Kongo-Beckens, wo die Boyoma-Fälle die Weiterfahrt fürs Erste beenden. Zeit wird dabei zu einem relativen Begriff, der dem bildmächtig eingefangenen Wechsel von Tag und Nacht, Sturm und Sonne weicht, wie das dicht gedrängte Leben an Bord überhaupt jede ordnende Begrifflichkeit sprengt. Doch nicht die mitunter bizarren Details des Alltags stehen im Zentrum, sondern die Abschweifungen entlang der in Bauwerken, Ruinen oder Produktionsstätten manifestierten Historie, etwa zur aufgelassenen Urwald-Universität von Yangambi, wo ein alter Professor resigniert ein 150.000 Pflanzen umfassendes Herbarium präsentiert, das allmählich zu Staub zerfällt. Bis in die Kolonialzeit zurück reichen auch die verblichenen Flusskarten oder das noch immer gültige Reglement für den Schiffsverkehr; was auf den alten Blättern nicht mehr entziffert werden kann oder in Vergessenheit geraten ist, trägt jeder Kapitän für sich nach oder regelt es auf eigene Faust. Doch Wehmut nach der ordnenden Macht der Europäer vermag nicht aufzukommen, weil die Zerfallserscheinungen der Gegenwart immer wieder mit Filmausschnitten aus dem Kolonialarchiv (insbesondere von Gérard de Boe und André Cauvin) kontrastiert werden, deren rassistische Herrschaftsideologie schwer zu ertragen ist: Stumme (Film-)Bilder weißer Herrenmenschen, die ganze Heerscharen halbnackter Afrikaner wie Statisten dirigieren. Die Folgen der belgisch-europäischen „Urbarmachung“, die im Grunde nur an der Ausbeutung der Bodenschätze interessiert war und in den „Schwarzen“ nicht mehr als bessere Arbeitstiere sah, lassen sich bis in die Diktatur Mobutus verfolgen, der das System für seine persönlichen Zwecke umbog, ohne an einer nachhaltigen Entwicklung interessiert zu sein.
Mobutus Paläste entlang des Flusses sind von der Vegetation längst zurückerobert, wie alles Menschenwerk hier binnen weniger Jahre wieder unter Grün zu verschwinden droht. Auch die Bahnstrecke, die entlang der Boyoma-Fälle beide Flussteile verbindet und damit den einzigen Transport- und Kommunikationsweg des riesigen Landes aufrecht erhält, kam während des Bürgerkriegs zum Erliegen; kaum zehn Jahre später muss sie dem Dschungel mühsam wieder abgerungen werden. Hier, im Südosten, gerät auch der Diskurs über die Spätfolgen des Kolonialismus ins Stocken, da sich die Spuren des Krieges nicht mehr übersehen lassen, in dem es einmal mehr um Kupfer, Kobalt und die anderen Bodenschätze ging; ein Mai-Mai-General zitiert kenntnisreich einschlägige Bibelstellen, um das barbarische Verhalten seiner Männer zu rechtfertigen; in einem Hospital begegnet man Frauen und Mädchen, die vergewaltigt und verstümmelt wurden; ein kaum zehnjähriger Kindersoldat unterwirft sich einem Reinigungsritual, bei dem er bekennt, an einem Tag 30 Menschen getötet zu haben. Doch nicht das Grauen, sondern der Lichtritus der christlichen Osterliturgie bildet das innere Ziel des Films, dem meditative Bilder aus dem Quellgebiet des Kongos folgen. „Congo River“ ist ein facettenreicher Film, dessen klare Strukturierung von der Mündung bis zu den Quellen es möglich macht, eine Vielzahl widersprüchlicher Aspekte, Motive und Entwicklungen zusammenzubringen, ohne sich in den Details zu verlieren. Die Spannungen in der Wirklichkeit, formal auch durch den Wechsel überwältigender Naturbeobachtungen mit den wenig erfreulichen politischen Umständen akzentuiert, lassen sich nicht wegdiskutieren, sondern allenfalls aushalten. „Congo rise up“, heißt es am Ende, Kongo, erhebe Dich, auch über die vorschnellen Urteile und medialen 08/15-Zuschreibungen: als Hoffnung oder Verheißung oder vielleicht auch nur als Ausdruck des Glaubens an die Kraft der Menschen in Zentralafrika.
Kommentar verfassen