Ein Gott aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, der den Menschen vor 5000 Jahren die Fähigkeit verlieh, die zerstörerischen Naturkreisläufe zu überwinden und eine zivilisierte Welt zu errichten, arbeitet im Brandenburg unserer Tage als Aushilfe in einem Bootsclub. Mit spielerischen Mitteln installiert der Film diesen Mythos und hinterfragt, ob es dem Gott gelingt, den Alltag in der an den ökonomischen Rand gedrängten Region wieder lebenswert zu machen. Ein Film, der Historisches, Faktisches und Fiktives verbindet und der eigene Vorstellungen zur Realität addiert, um eine mögliche Veränderung vor Augen zu führen.
Der Bootgott vom Seesportclub - Die 100 ME - Teil 1
- | Deutschland 2005 | 80 Minuten
Regie: Robert Bramkamp
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Bramkamp Weirich/ZDF/ARTE
- Regie
- Robert Bramkamp
- Buch
- Robert Bramkamp
- Kamera
- Jakobine Motz
- Musik
- Max Knoth
- Schnitt
- Robert Bramkamp
- Länge
- 80 Minuten
- Kinostart
- -
- Externe Links
- IMDb
Diskussion
Dies ist ein Film voller Fortschrittsglauben. Er artikuliert ihn auf die für Kunst einzig legitime Weise: er setzt darauf, dass sich die Erzählungen ändern lassen, mit deren Hilfe die Menschen ihre Wirklichkeit deuten. Zu Robert Bramkamps Kinokonzeption gehört es, Historisches, Faktisches und Fiktives so in Beziehung zu setzen, dass daraus ein anderes Kino erwächst: eines aus lauter bislang ungesehenen und ungenutzten Möglichkeiten. Ausgangspunkt ist, das vorsintflutliche Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris und die Brandenburger Gegend um Glubich- und Scharmützelsee nebeneinander zu rücken, sodass sichtbar wird, dass sich die vorzivile Region und die deutsche Wirklichkeit näher sind, als man denkt. Kann Brandenburg von dieser Konstellation profitieren, wird es sich ändern, wenn ein uralter sumerischer Gott unter den Menschen wandelt?
Sucht man kinogeschichtliche Anknüpfungspunkte für den „Bootgott“, findet man sie bei Monumentalfilmen. „Troja“ (fd 36 505) „Die Passion Christi“ (fd 36417) „Herr der Ringe“ (fd 35197, fd 35733, fd 36283) sind aktuelle Aneignungen antiker Mythologie, die alle Möglichkeiten des Kinos nutzen, um Wunder mit der Aura des Realen auszustatten. Ihre Macher werfen Hollywoods Effektmaschine aber immer bloß an, um Filmfiguren zu überhöhen – als wäre Übermenschlichkeit das Einzige, was hilft, um das Leben erträglich zu gestalten. Der Bootgott wirkt unheroisch, weltlich, als wäre er aus einer Charlottenburger Kneipe in einen Mythos entführt worden. Sein Name ist Enki. Vor 5000 Jahren übertrug er den Menschen Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichten, die zerstörerischen Naturkreisläufe zu überwinden und eine zivilisierte Welt zu errichten. Heute, im Bootssportclub, arbeitet er als Aushilfe. Enki verkörpert das, was materiell fehlt, was dringend passieren müsste, damit der Alltag in der von der herrschenden Ökonomie an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Region um den Scharmützelsee wieder lebenswert wird. Wahrlich, einen solchen Gott hat die Geschichte, das sieht man ihr an, lange vermisst.
„Wir wären, wenn möglich, gern ohne soviel Mythologie ausgekommen. Nun sind wir jedoch überzeugt, dass der Mythos eine Sprache ist, ein Ausdrucksmittel.“ Dies schrieb Cesare Pavese, italienischer Schriftsteller, Kommunist, Sympathisant des Widerstands zur Zeit Mussolinis. Pavese benutzte antike Mythologie, um mit historischer Tiefenschärfe zu zeigen, wie in Gesellschaften wie dem nachfaschistischen Italien immer wieder alte, todgeglaubte Kräfte und Konflikte jeden Neuanfang ersticken. Ähnlich widerspricht auch Bramkamps Film der Auffassung, ein Mythos sei lediglich ein Hirngespinst. Im alten Griechisch bedeutet Mythos „das Wort, das einen Tatbestand tönt“. Anders als der Logos, das Wort der Philosophen und Theoretiker, schließt der Mythos Individuelles, Gefühle, Träume, seelische Tiefen und Widersprüche mit ein, besitzt also einen umfassenderen Begriff vom Menschen. Mythologie ist ein hervorragendes Ausdrucks- und Erkenntnismittel der Kunst.
Heutzutage dient Kino-Mythologie einem Kult der Weltabgewandtheit, der Abwertung von Alltagswirklichkeit. Dagegen enthält der „Bootgott“ einen Protest. Wie Bramkamp einen Mythos mitspielen lässt, wie er diesen verbindet mit konkreten Lebensgeschichten und Schwierigkeiten der Menschen im Bootsportclub, das gibt dem Mythos seinen Realismus zurück. Dies will besagen: Einen Mythos als ewig gültige Wahrheit hinzustellen, ist der Inbegriff von Erstarrung. Der Mythos muss ständig gebrochen und verändert werden, andernfalls haben die großen Erzählungen und die Alltagserfahrungen der Menschen nichts miteinander zu tun. Wenn es im Kino einen aufgeklärten Umgang mit Mythologie gibt, dann hier. Wer an strikten Genre-Einteilungen festhält, muss bei diesem Film doppelt sehen; Dokumentarisches und Fiktives sind unlösbar vermischt.
Bramkamp dokumentiert, wie er der Realität eigene Vorstellungen sichtbar hinzufügt. Brandenburg ist voller Mischwesen, Mutanten. Als Held passt Enki vortrefflich in deren Welt aus geilen Kicks und Sensationen. Aber Enki will diese Rolle nicht spielen, zürnt, weil die Erzählungen der Mutanten nur noch um sie selbst kreisen; das Gesellschaftliche, die aktive, verändernde Teilnahme daran, haben sie völlig aus den Augen verloren. Manchmal ist Horror auf der Leinwand Ausdruck von genauer Kenntnis des Publikums. Der titelgebende Sportclub existiert wirklich. In einer von vielen Bewohnern auf Arbeitssuche verlassenen, in Agonie fallenden ostdeutschen Gegend stellt er ein reales Wunder dar. Eines der letzten Kulturangebote, in das Menschen sich einbringen können.
Bramkamps Film ist Teil eines Projekts, das im Internet fortgesetzt wird. Dort kann es jeder Enki gleichtun, Fähigkeiten und Wissen einbringen, um dem Sportclub das Weitermachen zu ermöglichen. Wo hat man solches schon gesehen? Dieser Film geht weiter in der Welt, die man betritt, wenn man das Kino verlässt. Der Western-Regisseur John Ford drehte gern im Freien, weit von Hollywood, im Monument Valley. Für ihn war das eine Möglichkeit, den Routinen und Intrigen des Filmbetriebs zu entgehen. Der „Bootgott“ sieht aus, als habe Bramkamp sein Monument Valley gefunden. Wann hat man je so schöne, farbige Bilder vom alltäglichen Brandenburg gesehen, wann dessen Geräusche und Töne so intensiv vernommen? Bilder, die aufatmen. Weite und Offenheit des Himmels korrespondieren mit der Art, wie der Film sich, mit Lust und großer Freiheit, öffentlich verdrängten Tatsachen stellt.
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