Drama | USA/Großbritannien/Frankreich 2006 | 110 Minuten

Regie: Paul Greengrass

Während am 11. September 2001 zwei Passagierflugzeuge das World Trade Center zerstören und eine dritte Maschine ins Pentagon rast, stürzt ein viertes gekapertes Flugzeug mit Kurs auf Washington über freiem Feld in Pennsylvania ab, nachdem die Passagiere Widerstand geleistet haben. Der Film enthält sich jeder Heroisierung und unternimmt keine Rekonstruktion der Ereignisse, konzentriert sich vielmehr auf eine dokumentarische Perspektive, die eine in Fragmente zersplitterte Wirklichkeit zeigt. Ein filmisches Mahnmal, das dank seiner moralischen Enthaltsamkeit eine Projektionsfläche für die trauernde amerikanische Nation bietet. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UNITED 93
Produktionsland
USA/Großbritannien/Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Universal Pic./Working Title Films/Sidney Kimmel Ent./Studio Canal
Regie
Paul Greengrass
Buch
Paul Greengrass
Kamera
Barry Ackroyd
Musik
John Powell
Schnitt
Clare Douglas · Richard Pearson · Christopher Rouse
Darsteller
Lewis Alsamari (Saeed Al Ghamdi) · JJ Johnson (Captain Jason M. Dahl) · Gary Commock (Erster Offizier LeRoy Homer) · Trish Gates (Sandra Bradshaw) · Polly Adams (Deborah Welsh)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Thriller
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
Universal (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Niemand wird jemals wissen, was genau an Bord von United 93 geschah, außer dass jenes von Al Kaida-Terroristen entführte und zur Mordwaffe umfunktionierte Linienflugzeug am 11. September 2001 auf dem Weg nach Washington in einem Feld in Pennsylvania zerschellte. Weil drei andere Jets die Ziele der Attentäter trafen, ließ sich jedoch schon früh erahnen, dass die letzten Minuten im Leben der Passagiere ein wichtiges Kapitel der amerikanischen Geschichtsschreibung liefern würden. Als noch niemand daran zu denken wagte, die Begebenheit tatsächlich zu verfilmen, wurde im kollektiven Gedächtnis bereits am Drehbuch eines Aufstands über den Wolken gefeilt, der die terroristische Mission durch amerikanische Tugenden vereitelte. Der Absturz der United 93 enthält die patriotische Botschaft von Zusammenhalt und Heldenmut im Augenblick höchster Gefahr, und nicht wenige Kommentatoren stilisierten die gemutmaßte Zivilcourage ganz gewöhnlicher Amerikaner zum ersten Schritt im nationalen Krieg gegen den Terror. Das ideologische Ringen um „Flug 93“ war also im vollen Gange, noch bevor der britische Regisseur Paul Greengrass mit den Dreharbeiten zu seinem Film begann. Als der erste Werbetrailer des Verleihs dann in die Kinos kam, funktionierten die Medienreflexe, als seien einhundert Jahre Filmgeschichte spurlos an der Öffentlichkeit vorbeigegangen. Von der schamlosen Ausbeutung einer Tragödie war die Rede, von Voyeurismus und Sensationsmache – Vorwürfe, die wie selbstverständlich in der Unterstellung kulminierten, im Grunde sei das Kino nicht in der Lage, sich bestimmter Themen auf adäquate Weise anzunehmen. In einem zweiten Trailer versicherte sich Greengrass der Zustimmung der Hinterbliebenen und kündigte dem staunenden Publikum an, auf jede Hollywood-Strategie verzichten zu wollen: keine Stars, kein moralisches Tremolo, keine tränenreiche Versöhnung zerstrittener Eheleute am Telefon. Um die Authentizität der Handlung zu verbürgen, spielen viele der an den Ereignissen indirekt beteiligten Fluglotsen, Armeeangehörigen und Mitarbeiter der Flugsicherheitsbehörden in „Flug 93“ sich selbst. In einer seltenen Demutsgeste schwor Hollywood seinen gängigsten Dramaturgien ab und fand sich nach dem offiziellen Kinostart im Konsens wieder. Aus dem Sturm der Entrüstung wurde allgemeine Zustimmung, die sich auch in den Zuschauerzahlen wiederspiegelt. Den Umschwung bewirkte ein simpler, aber wirkungsvoller Kunstgriff: die Verweigerung. Paul Greengrass erzählt keine Geschichte, er erschafft keine vertieften Charaktere, keine Helden und keine Bösewichte, und er leitet keine Moral aus den Ereignissen ab. Wie in seinem Nordirland-Drama „Bloody Sunday“ (2002) beschränkt sich Greengrass auf eine dokumentarische Perspektive, deren Merkmal eine unruhig geführte Handkamera und die in Fragmente zersplitterte Wirklichkeit ist. Beinahe minütlich wechselt der Handlungsort, springt zwischen dem Cockpit, dem Passagierraum und den Kommandozentralen der Behörden hin und her, bis die Kamera in den letzten Filmminuten ausschließlich dem Geschehen an Bord des Flugzeugs beiwohnt. „Flug 93“ beginnt im Morgengrauen mit dem Bild der vier betenden Attentäter. Die Kamera verfolgt ihre Fahrt zum Flughafen, wo sie sich in der Alltagsroutine einer reibungslosen funktionierenden Industrie verlieren. Piloten und Flugbegleiter treffen ein, Fluglotsen überwachen die Bewegungen auf ihren Bildschirmen, die Mitarbeiter der zivilen und militärischen Flugaufsicht erwarten einen ruhigen Spätsommertag. Dann bricht der Funkkontakt zu einer Maschine ab, die Behörden stellen sich auf eine Entführung ein, die ersten Warnroutinen greifen. Doch als die Twin Towers in Flammen stehen, bleibt nur noch CNN als verlässliche Quelle übrig. Während sich die Verantwortlichen allmählich der Tragweite der Ereignisse bewusst werden und in einer historisch einmaligen Entscheidung den Luftraum der Vereinigten Staaten schließen, wird die United 93 als letztes Flugzeug im Handstreich übernommen. Mit einer Bombenattrappe halten zwei Terroristen die etwa vierzig Passagiere in Schach, während die beiden anderen die Piloten töten und sich im Cockpit verbarrikadieren. Einzelne Reisende telefonieren mit ihren Angehörigen, erfahren, dass ihr Flugzeug für eine Selbstmordmission ausersehen ist, und verabreden sich, die Entführer zu überwältigen. Das Ende des Films ist dann ein wilder Taumel, ein Sturzflug der Dramaturgie, in dem in Todesangst verzerrte Gesichter, handgreifliche Gewalt und wüstes Geschrei in ein stummes Schwarzbild übergehen. Was immer man gegen die Ästhetik dieses Pseudo-Dokumentarismus und gegen einzelne Szenen und Momente des Films einwenden kann, in einem hat Greengrass triumphiert: Er hat ein filmisches Mahnmal geschaffen, das dank seiner moralischen Enthaltsamkeit eine Projektionsfläche für die trauernde amerikanische Nation bietet und als solche auch angenommen wird. Jeder sieht, was er zu sehen hofft, und findet sich bestätigt. Die konservative Lesart erkennt im berühmten Aufruf „Let’s roll“, mit dem sich die Abordnung der Passagiere auf die Terroristen stürzte, die zentrale Aussage des Films und leiten aus ihr eine Rechtfertigung des „War on Terror“ ab. Für die Liberalen liegt die Botschaft darin, dass sich Greengrass sowohl der Heiligsprechung wie der Verteufelung seiner Figuren widersetzt und den politischen Sakralisierungsprozess rund um den 11. September damit unterläuft. Als Mahnmahl ohne konkretes Eigenleben erfüllt „Flug 93“ seine Funktion derart gut, dass es beinahe obsolet erscheint, ihn auf inhaltliche Aussagen oder ästhetische Irritationen abzuklopfen. Steckt in der geschilderten Hilflosigkeit der Behörden und des Militärs ein Moment der Kritik, oder zeigt Greengrass damit nur, dass es auf den 11. September keine passenden Antwort geben konnte? Was bedeutet die inszenierte Entmenschlichung der Passagiere, während sie das Cockpit stürmen? Illustriert sie das Antlitz des Überlebensinstinkts, die Angleichung von Opfer und Täter im Todeskampf, oder zeigt sich in ihr die Entschlossenheit, jedes Mittel im Kampf gegen den Terror anzuwenden? Auf beunruhigende Weise bleiben diese Fragen offen. Die nationale Wunde schwärt weiter. Die Diskussion, wie sie zu schließen wäre, hat nun einen weiteren verbindlichen Bezugspunkt.
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