In der Regel weiß niemand, wie viel Zeit einem zum Leben bleibt, und das ist gut so. Romain aber, ein 31-jähriger Modefotograf, wird nach einem Schwächeanfall mit genau dieser brutalen Gewissheit konfrontiert. Nein, erläutert der Arzt dem gutaussehenden Homosexuellen, Romain sei nicht an AIDS erkrankt, vielmehr habe man einen Tumor entdeckt, der nicht operierbar sei. Seine Chancen lägen bei fünf Prozent. Nicht weniger?, fragt Romain. Doch, leider. Es blieben ihm drei Monate. Ein Durchschnittswert.
Wie soll man mit einer solchen Wahrheit umgehen? Was man sich kaum in Gedanken vorzustellen vermag und liebend gern verdrängt, spielt François Ozon im mittleren Teil seiner Trilogie über die Trauer konsequent durch – betont subjektiv, stets in der Möglichkeitsform, modellhaft, aber ohne Modellcharakter. Wie die von Charlotte Rampling verkörperte Frau im ersten Film der Trilogie, „Unter dem Sand“
(fd 35 132), muss auch Romain lernen, sich mit etwas Unfassbarem abzufinden, in diesem Fall nicht mit dem Tod eines geliebten Menschen, sondern mit dem eigenen Sterben, und dafür gibt es wohl noch weniger ein Generalrezept, sondern nur individuelle Wege der Annäherung an das Unvermeidliche. In einer Situation, in der die Alltagsroutine und manche unbedachte Gesprächsfloskel eine ganz neue Bedeutung annehmen, isoliert sich Romain schrittweise von den Menschen in seiner unmittelbaren Nähe und lässt (wie auch Charlotte Rampling in „Unter dem Sand“) niemanden mehr an sich heran. Seinen Geliebten kränkt er nach einem letzten heftigen Liebesspiel zutiefst und setzt ihn vor die Tür, während das ihm ohnehin suspekte bürgerliche Idyll seiner Familie erst recht keine Brücke zur Offenbarung zu bieten scheint: Mit der Schwester bricht er einen bösen Streit vom Zaun (erst später kommt es zur Versöhnung, wenn auch zu keiner wirklichen Aussprache), mit dem Vater gibt es ein kurzes doppelbödiges Gespräch, das einem verklausulierten Abschied gleich kommt, die Mutter bleibt außen vor. Während Romain in die Einsamkeit flüchtet (und in Drogen, die er ohnehin konsumiert), führt allein die Begegnung mit seiner Großmutter zu einem aufrichtigen, ebenso zärtlichen wie intimen Dialog, den Romain aus- und erträgt – vielleicht, so spekuliert er, weil auch sie nicht mehr allzu weit vom Tod entfernt ist. Ansonsten steht die kurze Begegnung der beiden wie eine real gewordene Utopie im Zentrum der Erzählung: wünschenswert und tröstlich, letztlich aber auf Dauer nicht alltagsfähig. Eine zweite Begegnung ist das im Grunde ebenso wenig: Romain wird von einer traurigen Kellnerin in einer Raststätte gefragt, ob er sie an Stelle ihres zeugungsunfähigen Ehemanns schwängern würde – was Romain zunächst ablehnt, später aber befürwortet. Von der „skandalösen“ Beischlafszene im Beisein des Ehemanns bis zur testamentarischen Regelung der Vaterschaftsrechte spielt der Film den „Handel“ durch – als eine mögliche Spur, die Romain zurücklassen wird.
Wie in nahezu allen seinen Filmen setzt Ozon zu Beginn und am Ende auf das metaphorische Bild des Wassers und des Meeres, hier, einleitend, als erste Rückblende auf die glückliche, unbeschwerte Kindheit des Protagonisten, und am Schluss als wortwörtliches finales Eintauchen ins Wasser, bevor der körperlich zutiefst ermattete Mann am sich langsam entvölkernden Strand einfach liegen bleibt und einschläft – vielleicht auch entschläft. Das sind fast schon alle dramaturgischen Kunstgriffe, die sich Ozon erlaubt. Während er in seinen anderen, weit spielerischeren Filmsujets eine zirzensische Lust an der Inszenierung auslebt, bleibt er streng, distanziert, fast unterkühlt. Dass er dabei zugleich das weite Scope-Format einsetzt, ist nur ein scheinbarer Widerspruch, vermittelt sich die tragische Situation dadurch doch aufs Schmerzlichste: hier das Ringen um Verstehen und Ertragen, was mit Distanz, Introspektion und (weitgehender) Reduktion der Gefühle einhergeht, dort das radikale Öffnen des Blickfeldes auf die ganze (Trag-)Weite eines zu Ende gehenden Lebens, das man, vielleicht, erst viel zu spät bewusst wahrnimmt. Ozon und mit ihm sein Protagonist suchen dabei durchaus nach „tröstenden Instanzen“: nach der Familie, der Liebe und (schwulen) Sexualität, auch nach der Religion und dem Trost im Glauben. Für Letzteres ersinnt Ozon eine pointierte Szene in einer Kirche, während der Romain einen derben Jungenstreich beobachtet, von dem man nicht erkennt, ob er Erinnerung oder Gegenwart ist, worüber er zunächst lächelt, dann aber in Tränen ausbricht – vielleicht aus der bitteren Erkenntnis und der ernüchternden Akzeptanz heraus, dass ihm in seinem kurzen Leben bestimmte Werte und Orientierungen abhanden gekommen sind, er primär auf sich selbst zurückgeworfen ist. Das ist ebenso provokant wie aufrichtig und eine Haltung, die womöglich relevanter ist als die (überflüssige) Frage danach, ob Ozon dieses „große“ Thema „bewältigt“ habe. Ozon ist ein Suchender, ein Fragender, ebenso skeptisch wie neugierig-radikal, sinnlich wie mutig. „Die Zeit die bleibt“ markiert keinen Endpunkt dieser (Sinn-)Suche, sondern allenfalls einen Transitpunkt. Es bleibt spannend zu beobachten, wohin die weiteren Filme Ozon führen.