Am 10.7.1976 verseuchte in der Nähe der norditalienischen Stadt Seveso eine Chemie-Fabrik des Schweizer Unternehmens Givaudan durch austretendes Dioxin die Natur, was bei Menschen extreme Hautverätzungen und schwere Langzeitschäden hervorrief. Der eindrucksvolle Dokumentarfilm rekonstruiert die Ereignisse, die dem deutschen Chemiker und technischen Direktor des Genfer Unternehmens, Jörg Sambeth, zum Verhängnis wurden. Dabei beschäftigt sich der Film nicht nur mit einem Einzelschicksal, sondern führt auch Geschäftspraktiken und Mechanismen eines Krisenmanagements vor, das einzig dem Gewinnstreben verpflichtet ist.
- Ab 16.
Gambit
Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2005 | 107 Minuten
Regie: Sabine Gisiger
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Filmdaten
- Originaltitel
- GAMBIT
- Produktionsland
- Schweiz/Deutschland
- Produktionsjahr
- 2005
- Produktionsfirma
- Dschoint Ventscht/SF DRS-TSR-TSI/SRG SSR/WDR
- Regie
- Sabine Gisiger
- Buch
- Sabine Gisiger
- Kamera
- Reinhard Köcher
- Musik
- Balz Bachmann · Peter Bräker
- Schnitt
- Patrizia Wagner
- Länge
- 107 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
König und Bauern stehen auf den Grundlinien bereit, es herrscht Zugzwang. Unzählbar sind die möglichen Spielverläufe im Schach. Wird bei der Eröffnung ein Bauer geopfert, um sich dafür andere Vorteile zu sichern, nennt der Schachspieler das ein Gambit. In dem Dokumentarfilm „Gambit“ hat das Bauernopfer einen Namen: Jörg Sambeth. Der junge Chemiker träumte den Traum vom besseren Leben in der Schweiz. Er wollte nicht, wie viele seiner Studienkollegen, für die einstigen Nationalsozialisten arbeiten, die immer noch in den Führungsetagen der deutschen Pharmaindustrie saßen, und verließ mit seiner Frau die baden-württembergische Heimat Richtung Genf. Ehrgeizig glaubte Sambeth an sich und an die Wahl im Leben, ein Mensch zu sein, der das Richtige tut. Sambeth wollte es richtig machen, und er wollte mehr. Haus mit Garten, Auto, Urlaubsgeld; der alltägliche Wohlstand lockte. Heute, mehr als 30 Jahre später, hegt er starke Zweifel am damaligen Lebenskonzept, versucht, sich von der Vergangenheit – nicht von der Verantwortung – loszusprechen und schämt sich noch immer für das Vorgefallene. Eine Scham, die ihn oft sprachlos macht.
Rückblicke auf die dramatischen Ereignisse vom 10. Juli 1976: In der italienischen Roche-Fabrik Icmesa explodiert die marode Anlage zur Produktion von Trichlorphenol. Große Mengen von Dioxin legen sich wie ein Schleier über die lombardische Stadt Seveso. Dioxin ist ein perfides Gas, geruchlos und unsichtbar, seine Auswirkungen aber sind umso sichtbarer und verheerend: Die der Fabrik nahe gelegene Natur stirbt. Tiere verenden qualvoll. Menschen, vor allem Kinder, leiden an Hautverätzungen. Frauen brechen aus Panik vor Missbildungen ihre Schwangerschaften ab. Jörg Sambeth ist zu dieser Zeit technischer Direktor des Genfer Unternehmens Givaudan, zu dem die Icmesa-Fabrik gehörte. Givaudan wiederum war eine Roche-Tochter und wurde von Basel aus geleitet. Roche, weltweiter Pharmaproduzent von Beruhigungsmittel wie Valium, sorgt sich nach dem Unfall aufgeregt um den guten Ruf. Geld, viel Geld steht auf dem Spiel. Darüber spricht man nicht. In der ersten Krisensitzung in Basel entscheidet der Vizepräsident von Roche, dass über den Vorfall nichts kommuniziert werde. Sambeth bricht das Schweigegebot einige Tage später, als er es nicht mehr erträgt, wie immer mehr Leute in den Spitälern teilweise falsch behandelt werden, weil die Ursachen für ihr Leiden unbekannt sind. Frontal in die Kamera blickend, erzählt der heute 73-Jährige konzentriert von den Vorgängen, angefangen bei der Vorgeschichte des Unfalls über den Gerichtsprozess bis zu seinem Leben danach. 1983 wurde Sambeth wegen Unterlassung von Sicherheitsmaßnahmen und zu später Information der Behören von einem italienischen Gericht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bei der Berufung wurde die Strafe auf eineinhalb Jahre reduziert. Im gleichen Zug wird der zuvor zu fünf Jahren Haft verurteilte Givaudan-Direktor freigesprochen. Schachmatt. Der Bauer ist tot, lange lebe der König.
Die Zürcher Filmemacherin Sabine Gisiger („Do it“, fd 35361) lässt in ihrer filmischen Rekonstruktion nicht nur Sambeth sprechen, sondern auch damalige Anwälte und Chemie-Professoren, die den Unfall untersucht haben. Roche-Vertreter kommen nicht zu Wort, weil niemand von den im Seveso-Fall involvierten Personen im Film Stellung nehmen wollte. Vervollständigt werden die Aussagen der Beteiligten mit Archivmaterial sowie unveröffentlichten Dokumenten – wirkungsvoll und spannend montiert. In aktuellen Aufnahmen schweift die Kamera wiederholt an Mauern von Häusern entlang, drückt sich fast an sie. Die sichtbaren Begrenzungen verdeutlichen, wie klein das Handlungsfeld des Einzelnen ist, innerhalb den hierarchischen Strukturen eines Großkonzerns. Da gibt es so wenig Spielraum wie in den Feldern eines Schachbrettes. Schach, das Nullsummenspiel, beim dem der Zufall fast keine Rolle spielt, sondern lediglich das Können des Spielers über Sieg und Niederlage entscheidet; theoretisch gewinnt immer der Spieler mit der perfekten Spielweise. Für eine perfekte Spielweise braucht es vollständige Information. In der Praxis fehlte Sambeth diese vollständige Information für sein Handeln, und trotzdem gesteht er seine Mitverantwortung offen ein. Er habe zu wenig hinterfragt, zu wenig genau hingeschaut. Mit feinem Sinn für menschliche Zwischentöne zeichnet die Regisseurin filmisch eindrucksvoll die Mechanismen eines Krisenmanagements auf, das in die Leere läuft. „Gambit“ ist das gelungene Psychogramm eines Industriegiganten, der auch in der Krise unbeirrbar an seinem gnadenlosen Gewinnstreben festhält. Eine Strategie, die rentiert, auch wenn Menschen auf der Strecke bleiben.
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