Alan Lomax - The Songhunter

Dokumentarfilm | Niederlande 2005 | 95 Minuten

Regie: Rogier Kappers

Porträt des 2002 verstorbenen Alan Lomax, der als Sammler und Archivar von Folksongs berühmt wurde. In Form eines Road Movies zeichnet der Film das Bild eines leidenschaftliches Mannes, der volkstümliche Traditionen vor dem Aussterben bewahrt hat und für die US-Kongressbibliothek regionale Volksmusik archivierte. Ein bewegender Dokumentarfilm, der gleich in mehrfacher Hinsicht den Kampf gegen den Verlust von Erinnerungen reflektiert. (O.m.d.U.) - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LOMAX THE SONGHUNTER
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
MM Filmprodukties
Regie
Rogier Kappers
Buch
Rogier Kappers
Kamera
Adri Schrover
Schnitt
Jos Driessen
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Gleich in mehrfacher Hinsicht reflektiert dieser schöne Dokumentarfilm einen Kampf gegen den Verlust von Erinnerungen. Aus dem Off gibt Rogier Kappers zu Protokoll, dass Alan Lomax schon lange „sein Held“ gewesen sei. Doch als der niederländische Regisseur und Drehbuchautor den legendären Archivar volkstümlicher Musik 2001 in Florida besucht, ist der nach einem Schlaganfall nicht mehr zum Gedankenaustausch fähig. Also spielt er dem vergreisten Idol, in der Hoffnung, dessen Gedächtnis anzuregen, Aufnahmen vor, die Lomax einst von den Gesängen afroamerikanischer Sträflinge und schottischer Inselbewohner anfertigte. Gleich zu Beginn liest Lomax’ Tochter ihrem Vater einen Aufsatz vor, in dem der seine Arbeit programmatisch als Kampf gegen den Verlust kollektiver Erinnerung darstellte: Mit dem typischen Kulturpessimismus des Folkloristen entwarf Lomax darin das Bild einer Welt, in der nur noch „automatisierte, massenhaft vertriebene Videomusik“ existieren werde, weshalb die Nachfahren uns dafür verachten würden, die Auslöschung der Folklore zugelassen zu haben. Um diesem Verlust „des Besten unserer Kultur“ entgegenzuwirken, hat Lomax fast überall auf der Welt Folksongs gesammelt. 1933 begann er, seinen Vater auf Reisen durch den amerikanischen Süden zu begleiten, wo dieser für die US-Kongressbibliothek regionale Volksmusik archivierte; vier Jahre später übernahm Alan vom Vater die Leitung des „Archive of American Folk Song“ an der Library of Congress. In Filmausschnitten ist die Blues-Legende Leadbelly zu sehen, der in einem texanischen Gefängnis von den Lomax' entdeckt wurde. Auch kurze Filmaufnahmen von Woody Guthrie und Pete Seeger werden eingeblendet, mit denen Lomax in späteren Jahren zusammen arbeitete. Seeger, den Mitinitiator des Folk Revivals der 1950er- und 1960er-Jahre, hat Kappers im New York der Gegenwart ebenfalls vor die Kamera bekommen – allerdings ohne ihm viele Worte zu entlocken. Es sind andere Weggefährten, die in knappen Interviews das Bild eines vitalen und selbstbewussten Charismatikers zeichnen; was im traurigen Gegensatz zum Eindruck jener diskreten Aufnahmen steht, die Lomax kurz vor seinem Tod versonnen lächelnd am Swimming Pool seiner Tochter zeigen. In jüngeren Jahren kommt Lomax in einem Fernsehauftritt aus den frühen 1980er-Jahren zu Wort, wobei der zutiefst demokratische Impuls seiner Begeisterung für Volksmusik deutlich wird, wenn er die Songs afroamerikanischer Sträflinge der Depressionszeit ganz selbstverständlich als große Kulturleistung einstuft. Die ältesten Selbstzeugnisse der Hauptfigur des Films stammen indes aus den 1950er-Jahren, als Lomax in Europa regional typische Lieder aufnahm. Aus dem Off werden Tagebuchaufzeichnungen jener Zeit eingesprochen, die verdeutlichen, welche historische Bedeutung Lomax seiner Mission beimaß – wohingegen seiner Familie eine entsprechend nachrangige Bedeutung zufiel, wie seine Tochter leise bedauert. Überraschend ist, dass nicht zur Sprache kommt, dass es unter anderem wohl der Druck der McCarthy-Repressionen war, der Lomax 1950 aus dem Land trieb. Kappers hat sich mit einem alten VW-Bus auf die Spuren seines Idols gemacht und Menschen gesucht, die damals in Schottland, Spanien und Italien für Lomax gesungen und musiziert haben. Die meisten jener Leute seien längst tot – sonst müssten sie ja mittlerweile 200 Jahre alt sein, wird ihm von einem alten Ehepaar beschieden, das er auf seiner ersten Station der Reise, auf einer Hebrideninsel, in der Wohnküche zum Singen bewegt. In den Fällen, in denen die einstigen Hobbymusiker tatsächlich verstorben sind, kommt es zu rührenden Szenen, wenn etwa jemand plötzlich auf Band die Stimme des toten Vaters hört. Einige der ehemaligen Musiker trifft Kappers noch lebend an, und es ist faszinierend anzusehen, wie sich manches Großmütterchen plötzlich zum Singen animiert fühlt oder gar auf unsicheren Beinen zu tanzen beginnt. In solchen Szenen erscheint die durchaus problematische Perspektive der Folkloristik, die ihren Gegenstand als unmittelbaren Ausdruck einer urwüchsigen Tradition betrachtet, plötzlich evident. Freilich deutet Kappers an, dass solche Traditionen wohl endgültig zum Aussterben verurteilt sind, wenn er als regelmäßiges Motiv einen Abschiedsblick durch die Heckscheibe seines Wagens einstreut. Damit endet dieser Film auch, der dem Gedenken an Alan Lomax einen würdigen Dienst erweist. Der Vollständigkeit halber sei aber auch daran erinnert, dass die Nachrufe auf den am 19. Juli 2002 Verstorbenen in den USA auch einige kritische Stimmen zu Tage förderten. Die gaben zu bedenken, dass in jenem Verständnis von populärer Kultur, das Lomax repräsentierte, die Erinnerung an die Künstler mitunter von der an ihren Entdecker überschattet wird.
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