Eine junge Frau, Managerin in einem Luxushotel, wird erpresst. Man werde ihren Vater ermorden, lautet die Drohung, wenn sie nicht einen prominenten Hotelgast, den Chef der „US-Homeland-Security“, und dessen Familie in eine andere Suite verlege. Ist das geschehen, daran besteht kein Zweifel, wird dieser ermordet werden. Die junge Frau scheint vor der Entscheidung zu stehen, das Leben eines nahen Verwandten oder das mehrerer anderer Menschen zu opfern.
Dieses scheinbar ausweglose moralische Dilemma bildet den Kern von Wes Cravens Film. Zuletzt hatte Cravens Ruf durch den vom Studio stark manipulierten Werwolf-Film „Verflucht“
(fd 37 145) erheblich gelitten, zumal bei jenen, die schon mit der selbstreferenziellen Intelligenz seiner drei „Scream“-Filme nichts anfangen konnten. Mit „Red Eye“ stellt Craven nun seinen Ruf wieder her – und bewegt sich doch auf neuen Pfaden. Einerseits entfernt er sich deutlich vom Slasher-Horrorfilm und erobert das Terrain des Psychothrillers mit realistischen und sogar komödiantischen Elementen, wie er von Hitchcock perfektioniert wurde; andererseits ist dies doch ein typischer Craven-Film, der souverän auf eine Achterbahn der Emotionen, vor allem des Schreckens, des Schocks und der Angst führt. Craven spielt mit allen Kinotricks, instrumentalisiert seine Figuren bis an die Grenze des Zynismus und reichert die geradlinige Genrestory mit allerlei Anspielungen und Subtexten an. So entsteht ein Kunstwerk, das formbewusst ist und etwas zu sagen hat über die Dinge des Lebens. Wie andere Filme Cravens, ist auch „Red Eye“ eine genaue, scharfe Analyse der amerikanischen Gesellschaft.
Der Film ist in drei Akte unterteilt. Im ersten begegnet man der Hauptfigur Lisa. Während sie mit dem Kopf ganz bei ihrer stressigen Arbeit ist, Telefongespräche mit einer untergebenen Kollegin führt, lernt man sie in Alltagssituationen des modernen Lebens kennen. Mit dem Taxi fährt sie zum Flughafen von Dallas. Der Wagen steht im Stau, dann verspätet sich der Abflug. Am Ticket-Schalter wird sie in einen Streit anderer Passagiere verwickelt und beweist erstmals ihre Souveränität; zugleich lernt sie einen jungen Mann kennen, mit dem sie wenig später erneut zusammentrifft, woraufhin er sie zu einem Drink einlädt. In diesen Passagen des zufälligen Kennenlernens zweier Singles wird der Film zur Ironisierung der „Romantic Comedy“ Hollywoods. Dass etwas nicht stimmt, ist dem Zuschauer nämlich nicht nur deswegen klar, weil der Regisseur Wes Craven heißt; vielmehr spürt man einen falschen Ton in der Situation, liegt doch etwas zu viel Hast und Stress in den Reden und Blicken der beiden. Zudem sieht man, als Lisa sich umkleidet, eine große Narbe auf ihrer Brust, und ahnt erstmals, dass hinter ihrer scheinbaren Unbeschwertheit etwas anderes steht: ein Trauma, das sich erst später enthüllt. Nebenbei zitiert Craven gängige Katastrophenfilm-Muster à la „Airport“
(fd 16 767), bei dem vor dem Hintergrund alltäglicher Rituale ein Panorama archetypischer Figuren vorgeführt wird.
Den zweiten Akt bildet der Flug. Lisa kommt neben dem jungen Mann zu sitzen. Man spürt ihre instinktive Irritation, auch, dass sie sich hin- und hergerissen fühlt zwischen der Lust am Flirt und ihrer sie warnenden Vernunft. Bald entpuppt sich der Mann mit dem sprechenden Namen Jackson Rippner als hochgefährlicher Erpresser. In einem klaustrophobischen Szenario sind Opfer und Verbrecher nun zum Nebeneinandersitzen verdammt. Jetzt wird „Red Eye“ zum hohen Kunstwerk des Timings und der subtilen Verschiebungen, die den „Thrill“ immer weiter steigern. Es ist ein kunstvoller Kampf zwischen Lisa, die versucht, Rippner zu entkommen, ohne das Leben ihres Vaters zu gefährden, und Rippners Bestreben, sie nicht aus den Klauen zu lassen, ihre Handlungen zu kontrollieren. Mit bewundernswerter Ökonomie und ständig hohem Tempo gewinnt Craven dem begrenzten Szenario immer neue, stets unterhaltsame Facetten ab – und erweist sich dabei auch als Meister der Irreführung. Im dritten Teil, unmittelbar nach der Landung, eskaliert die Handlung bis zum Showdown in Lisas Elternhaus. „Red Eye“ wird zum Intruder-Film, bei dem Lisas Kenntnis des Hauses entscheidend für die kleinen Tricks wird, mit denen sie den Killer schließlich aufs Kreuz legt. Wie zuvor andere Alltagsgegenstände kommt dabei allerlei Spielzeug zum Einsatz; metaphorisch entleert Lisa das Kinderzimmer, nimmt Abschied von der Kindheit.
„Red Eye“ ist „straightes“, spannendes Kino mit Pulp-Aspekten. Ein Thriller, der extrem auf Timing setzt und seine Geschichte bis zum Ende ohne Unterbrechung sachte eskalieren lässt. Dabei kann man die Handlung auch als auf die Spitze getriebener Geschlechterkampf lesen, als Rachegeschichte einer Frau, die einst vergewaltigt wurde und nun ihre Kraft aus der Gewissheit schöpft, die erlittene Ohnmacht kein zweites Mal empfinden zu wollen. Aktuelle Analogien liegen auf der Hand: Politischer Terror und die tiefe Erschütterung des Sicherheitsempfindens einer Gesellschaft ist in der Perspektive des Films der Erfahrung von Vergewaltigung und Ohnmacht vergleichbar. Cravens Antwort lautet hier nicht nur, dass man manchmal (ab-)töten sollte, was einen quält; vor allem zeigt er, dass man moralische Dilemmata nicht akzeptieren muss und sich nicht in die Falle der von anderen gestellten Alternativen flüchten darf.