Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 90 (TV gek. 52) Minuten

Regie: Hubertus Siegert

Beobachtungen in einer integrativen Klasse an der Berliner Fläming-Schule, in der behinderte und nicht behinderte Schüler gleichberechtigt unterrichtet werden. Die Dokumentation zeigt ein weitgehend intaktes Klassenleben, das den Behinderten ein Umfeld zur Entfaltung bietet, während die Nichtbehinderten zur Rücksichtnahme angehalten werden, aber dennoch ihre schulischen Konflikte austragen können. Sensibler Dokumentarfilm mit eindeutig pädagogischer Ausrichtung, der fürs Fernsehen produziert wurde, durch sein Anliegen aber auch im Kino Aufmerksamkeit verdient. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
S.U.M.O. Film/rbb/arte
Regie
Hubertus Siegert
Buch
Hubertus Siegert
Kamera
Armin Fausten
Schnitt
Bernd Euscher
Länge
90 (TV gek. 52) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Die Ergebnisse der Studie trafen das Land wie eine nationale Katastrophe. Dabei hatte sich eigentlich gar nichts ereignet, es war lediglich eine Bestandsaufnahme gemacht worden; deutscher Bildungsrückstand im europäischen Vergleich: der „Pisa-Schock“! Sofort war allen klar, dass gehandelt werden musste. Vom Bildungsauftrag der Schulen ist seitdem viel die Rede; von ihrem Erziehungsauftrag weniger. Inmitten der (verbalen) Großoffensive zur Elitenförderung taucht jetzt ein unscheinbarer Film in den Kinos auf: „Klassenleben“. Regisseur Hubertus Siegert dokumentiert darin einen ungewöhnlichen Schulalltag. Fünf Schülerinnen und Schüler einer Förderklasse der integrativen Fläming-Schule in Berlin stehen im Mittelpunkt. Insgesamt 20 Schüler besuchen die Klasse, vier davon sind als „behindert“ eingestuft, von leseschwach bis schwerbehindert. Das Konzept der Schule ist seit 30 Jahren erprobt: Erziehung ohne „Aussonderung“ hieß es früher, „Inklusion“ nennt sich das heute. Begabte und behinderte Kinder werden nicht getrennt gefördert bzw. verwaltet, sondern gemeinsam unterrichtet. Kann das gut gehen? Siegerts Film gibt eine klare positive Antwort auf diese Frage, ohne sie ausdrücklich zu formulieren. Das Schulprinzip wird nicht erläutert, Interviews bleiben die Ausnahme. Die meiste Zeit über hält sich das Filmteam im Hintergrund, verschwindet hinter Beobachtungen: die aufmerksame Kamera auf Kinderhöhe als unsichtbare Mitschülerin. Ein nicht unproblematisches Vorhaben. Schließlich ist nicht zu erwarten, dass sich Elfjährige vor laufender Kamera völlig unbefangen verhalten. Andererseits ist es den Kindern auch nicht möglich, sich über einen Zeitraum von 30 Drehtagen zu verstellen. Nach Abschluss der Dreharbeiten befragt, sagten die meisten, sie hätten sich recht bald an die Filmleute gewöhnt und sich kaum noch von ihnen stören lassen. Nur das Mikrofon, meint einer, hätte genervt Tatsächlich vermittelt Siegerts Dokumentation eine authentische Atmosphäre, intime Einblicke in das Innenleben einer außerordentlichen Klasse. Dabei rücken Luca, Marwin, Dennis, Johanna und Christian besonders ins Blickfeld. Als ihre „Antagonistin“ fungiert Frau Haase, die engagierte, strenge Klassenlehrerin, von der sich Luca wünscht, dass sie morgens einmal als Schülerin aufwacht und sie dann ihre Lehrerin sei. „Und dann, nach dem Diktat, würde sie mich fragen, ob’s heute hitzefrei gibt. Und ich würde antworten: Nein, heute habt ihr in der sechsten und siebten Stunde Sport draußen in der Hitze, sechs Runden Dauerlauf.“ Luca sagt das nicht in die Kamera, ihre Stimme wird als Voice-over eingeblendet. Siegert verwendet solche Off-Kommentare häufig, um eine zweite Erzählebene einzuführen, Übergänge zu glätten und das heterogene Bildgeschehen abzurunden. Der ästhetischen Funktion wird hier ein Stück Unmittelbarkeit geopfert: die Einspielungen klingen abgelesen, wohl überlegt. Einerseits besteht so die Gefahr, das „Klassenleben“ nachträglich im Schnittraum zu manipulieren; andererseits gewinnt der Film an Tiefe, indem er Empfindungen zur Sprache bringt, die nicht ohne Weiteres abfotografierbar sind, die sich dem Blick entziehen: Träume, Sehnsüchte, Erinnerungen. „Früher“, erzählt ein Mädchen, „konnte Lena ja auch noch laufen. Früher war sie eigentlich genauso wie jedes andere Mädchen. Und dann wurde es irgendwann so, dass sie hingefallen ist. Dann wurde diese Krankheit schlimmer. Und jetzt sitzt sie im Rollstuhl. Ich denk’ schon, dass sie noch eine Menge mitkriegt. Man kann es natürlich nicht erfahren, weil sie nicht sprechen kann. Ich wünschte mir, dass Lena wieder laufen kann und dass man sich auch erinnert, wie es früher war.“ Heute kommt Lena nur noch sporadisch zum Unterricht, immer dann, wenn ihre Krankheit das zulässt. An ihrem Geburtstag zum Beispiel: Jemand legt „Dancing Queen“ auf, und die Kinder tanzen, ausgelassen, fröhlich, miteinander. Kranke und Behinderte werden nicht ausgeschlossen, aber es dreht sich auch nicht alles um sie. Weder in der Fläming-Schule, noch in Siegerts Film. Sie nehmen Teil am „Klassenleben“, wie alle anderen auch. Probleme bleiben nicht aus; bei keinem der Kinder. Christian findet sich als Neuer schwer in die Gemeinschaft ein, Dennis ist mit seinen Noten unzufrieden. Aber die Konflikte werden ausgetragen, die Kinder lernen, sich auseinander zu setzen. Der Film beginnt mit einem als Schrifttext eingeblendeten Zitat von Dennis: „Ich glaube, Erziehung hat mit allem was zu tun: mit Bestechung, mit Erpressung, mit Schreien und mit Freundlichsein. Das letztere ist notwendig, damit die Kinder die Lehrer nicht hassen.“ Am Ende des Filmes besteht jedoch kein Zweifel, dass für Regisseur Siegert das Erziehungskonzept an der Fläming-Schule einer solchen fehlgeleiteten Pädagogik entgegenarbeitet. Siegert äußerte, er wolle mit seinem Film einen Beitrag zur Bildungsdebatte leisten; einen Gegenbeitrag, könnte man spezifizieren. Darin ist er so überzeugend, dass es leicht fällt, darüber hinwegzusehen, dass die Fernsehproduktion, die sich auffällig an Nicolas Philiberts „Sein und Haben“ (fd 35 751) anlehnt, kaum Kinoformat erreicht. Einem anderen, viel höheren Anspruch wird sie gerecht. Luca formuliert ihn so: „Viele haben ja die Meinung, dass es schlecht ist, wenn behinderte Kinder mit Kindern zusammenarbeiten, die vielleicht ein bisschen begabter sind. Der Film, finde ich, soll zeigen, dass das eben nicht so ist.“
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