Jarmark Europa

Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 124 Minuten

Regie: Minze Tummescheidt

Beobachtungen auf einem der größten Basare Osteuropas in Warschau, auf dem vor allem russische Händler Waren feilbieten. Der vielschichtige Dokumentarfilm begleitet eine ehemalige Leiterin einer Poliklinik sowie eine frühere Lehrerin auf ihren Verkaufsreisen aus der Heimat und beobachtet den Marktalltag. Dabei verdichten sich die Bilder zu einem Essay über Lebenskraft und Überlebensmut, Politik und das Schicksal des Einzelnen, europäische Einigungsrhetorik und die damit verbundene Praxis gegenüber jenen, die vielleicht nie "dazugehören" werden. Mit einem Kommentar, der auch über visuelle Fehlstellen des Films reflektiert, kommt die Moral des Bildermachens selbst zur Sprache. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
cinéma copains
Regie
Minze Tummescheidt
Buch
Minze Tummescheidt
Kamera
Minze Tummescheidt · Arne Hector
Schnitt
Minze Tummescheidt
Länge
124 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
In der Brandung so genannter Dokumentationen, die im Vorgriff auf vermeintliche Sehgewohnheiten und in Ermangelung von freiem Geist und ästhetischem Mut mehr und mehr zu fiktionalisierten Szenen flüchten, nimmt sich „Jarmark Europa“ wie ein Fels „reiner“ Dokumentarfilmkunst aus. Die in Lima geborene, in Berlin lebende Regisseurin, Kamerafrau und Cutterin Minze Tummescheit lässt sich auf eine zärtliche Langsamkeit, ein schwebendes Beobachten ein, ohne dessen dramaturgische Verdichtung zu vernachlässigen. Den Stoff liefert ihr einer der größten Basare Osteuropas, der in einem Stadion in Warschau angesiedelt ist und dem Film seinen Titel gab. Aus dessen quirligen, anziehenden und befremdlichen Bildern filtert sie gleich mehrere Themen: Sie erzählt von der Kunst des Lebens und Überlebens in einer Welt, in der es oft um die nackte Existenz geht; von der Stärke und der Müdigkeit der Frauen; vom gespaltenen Kontinent: von denen, die „drinnen“ sind, und von denen, die sich, ohne es selbst beeinflussen zu können, „draußen“ befinden. Nicht zuletzt erzählt sie von der Endlichkeit aller Dinge: Wird das junge EU-Land Polen den Jarmark noch dulden dürfen, auch wenn es durch die Gebühren für die damit verbundenen Visa selbst gut daran verdient? Bei Minze Tummescheit wird die Peripherie zum Zentrum, das scheinbar Randständige zum Prüfstein für Globalisierungsrhetorik und ihre Hohlstellen, für die „erste“ und die „dritte“ Welt, die plötzlich vor der eigenen Tür beginnt.

Trotz seines weiten Umfelds konzentriert sich der Film auf zwei Figuren. Kaleria Michailowna, einst Leiterin einer russischen Poliklinik, jetzt Rentnerin, reist alle zwei Monate aus ihrem Ort fast an der kasachischen Grenze zum Warschauer Markt, um dort feilzubieten, was daheim preiswert erworben und in Polen verkauft werden kann: gebrauchte Uhren, Kugellager, Henna, Putzschwämmchen, die am Ende um die 100 Dollar Gewinn bringen. Für den Westen ein Nichts, für eine Familie in Russland ein willkommenes Zubrot. Der Film zeigt Kaleria auf den Markt, auf den Zugreisen, zuhause, und vermittelt, dass es der Frau körperlich zunehmend schwerer fällt, die Strapazen auf sich zu nehmen. Er lässt ahnen, welchen Stellenwert die Erinnerungen an „bessere Zeiten“ bei ihr einnehmen – nämlich gar keinen. Für das Trauern über Verlorenes bleibt weder Kraft noch Muße, außerdem würde es niemanden satt machen. Dem entsprechend führen die Brüche der Biografie auch in der filmischen Verarbeitung nie zu Larmoyanz und Sentimentalität. Gerade die Nüchternheit erlaubt es dem Zuschauer, die Bilder unbeeinflusst von vorgegebenen Stimmungen mit seinen eigenen Gefühlen „aufzuladen“. Das trifft auch auf das zweite Porträt zu, das der weißrussischen Musiklehrerin Swetlana, die auf dem Jarmark russische Literatur, Musik-CDs und Videos verkauft oder verleiht. Ihre Kunden sind meist die anderen Händler, die für ihre Ruhezeiten nach Abwechslung suchen. Auch hier gibt es eindrucksvolle Szenen, etwa wenn die Kamera in einer langen Einstellung vermittelt, dass Swetlana auch nach dem Zuschnüren der Regenplanen um ihren Stand als Ratgeberin für zu spät Gekommene da ist. In beiden Porträts bleibt manches ungezeigt; das entsprach getroffenen Abmachungen oder ergab sich aus konkreten, nicht immer erfreulichen Drehbedingungen, etwa an den zu passierenden Grenzen. Mit dem Ausschalten der Kamera nahm die Regisseurin eine Schutzfunktion gegenüber ihren „Heldinnen“ wahr: Investigativer Journalismus war nicht angesagt.

Was Minze Tummescheit aus solchen visuellen „Fehlstellen“ machte, ist für den künstlerischen Dokumentarfilm ein Glücksfall: Sie nutzte ihr Tagebuch, um es zum Kommentar zu verarbeiten, der u.a. die Entstehungsumstände des Films reflektiert. Gerade wenn die Leinwand schwarz bleibt, gewinnen diese Worte starke Imaginationskraft: „Was ich aufgenommen habe, ist gleichsam abgelegt und damit vergessen. Die Bilder, die ich nicht gemacht habe, sind leuchtender und kraftvoller als alles, was ich jemals hätte machen können.“ „Jarmark Europa“ ist ein poetischer wie politischer Film, vielschichtig und zärtlich, eine nahe und ferne Erkundungsreise; nicht zuletzt ein Film über das Handwerk des Bildermachens selbst – und die Moral dessen, der sich daran versucht.

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