Jarmark Europa
Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 124 Minuten
Regie: Minze Tummescheidt
Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 2004
- Produktionsfirma
- cinéma copains
- Regie
- Minze Tummescheidt
- Buch
- Minze Tummescheidt
- Kamera
- Minze Tummescheidt · Arne Hector
- Schnitt
- Minze Tummescheidt
- Länge
- 124 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Trotz seines weiten Umfelds konzentriert sich der Film auf zwei Figuren. Kaleria Michailowna, einst Leiterin einer russischen Poliklinik, jetzt Rentnerin, reist alle zwei Monate aus ihrem Ort fast an der kasachischen Grenze zum Warschauer Markt, um dort feilzubieten, was daheim preiswert erworben und in Polen verkauft werden kann: gebrauchte Uhren, Kugellager, Henna, Putzschwämmchen, die am Ende um die 100 Dollar Gewinn bringen. Für den Westen ein Nichts, für eine Familie in Russland ein willkommenes Zubrot. Der Film zeigt Kaleria auf den Markt, auf den Zugreisen, zuhause, und vermittelt, dass es der Frau körperlich zunehmend schwerer fällt, die Strapazen auf sich zu nehmen. Er lässt ahnen, welchen Stellenwert die Erinnerungen an „bessere Zeiten“ bei ihr einnehmen – nämlich gar keinen. Für das Trauern über Verlorenes bleibt weder Kraft noch Muße, außerdem würde es niemanden satt machen. Dem entsprechend führen die Brüche der Biografie auch in der filmischen Verarbeitung nie zu Larmoyanz und Sentimentalität. Gerade die Nüchternheit erlaubt es dem Zuschauer, die Bilder unbeeinflusst von vorgegebenen Stimmungen mit seinen eigenen Gefühlen „aufzuladen“. Das trifft auch auf das zweite Porträt zu, das der weißrussischen Musiklehrerin Swetlana, die auf dem Jarmark russische Literatur, Musik-CDs und Videos verkauft oder verleiht. Ihre Kunden sind meist die anderen Händler, die für ihre Ruhezeiten nach Abwechslung suchen. Auch hier gibt es eindrucksvolle Szenen, etwa wenn die Kamera in einer langen Einstellung vermittelt, dass Swetlana auch nach dem Zuschnüren der Regenplanen um ihren Stand als Ratgeberin für zu spät Gekommene da ist. In beiden Porträts bleibt manches ungezeigt; das entsprach getroffenen Abmachungen oder ergab sich aus konkreten, nicht immer erfreulichen Drehbedingungen, etwa an den zu passierenden Grenzen. Mit dem Ausschalten der Kamera nahm die Regisseurin eine Schutzfunktion gegenüber ihren „Heldinnen“ wahr: Investigativer Journalismus war nicht angesagt.
Was Minze Tummescheit aus solchen visuellen „Fehlstellen“ machte, ist für den künstlerischen Dokumentarfilm ein Glücksfall: Sie nutzte ihr Tagebuch, um es zum Kommentar zu verarbeiten, der u.a. die Entstehungsumstände des Films reflektiert. Gerade wenn die Leinwand schwarz bleibt, gewinnen diese Worte starke Imaginationskraft: „Was ich aufgenommen habe, ist gleichsam abgelegt und damit vergessen. Die Bilder, die ich nicht gemacht habe, sind leuchtender und kraftvoller als alles, was ich jemals hätte machen können.“ „Jarmark Europa“ ist ein poetischer wie politischer Film, vielschichtig und zärtlich, eine nahe und ferne Erkundungsreise; nicht zuletzt ein Film über das Handwerk des Bildermachens selbst – und die Moral dessen, der sich daran versucht.