Mission en enfer - Mission des Grauens

- | Schweiz 2003 | 95 Minuten

Regie: Frédéric Gonseth

Zwischen 1941 und 1943 entsandte das Schweizer Rote Kreuz vier Ärzte-Missionen an die Ostfront nach Smolensk, Warschau, Riga und Donetsk, um humanitäre Hilfe zu leisten. Obwohl zu strikter Neutralität verpflichtet, versorgten die Ärzteteams ausschließlich deutsche Soldaten. Zugleich wurden die Mediziner Zeugen des Vernichtungskrieges gegen Russland und der Shoah. Als sie damit an die Öffentlichkeit gehen wollten, zwang sie die Schweizer Regierung zum Schweigen. Der herausragende Dokumentarfilm setzt Gegenwart und verdrängte Historie beispielhaft miteinander in Bezug. Dabei geht es ihm in der reflektierten Montage der Bilder des historischen Grauens weniger um die politischen Hintergründe als um die zugrunde liegenden Strukturen und Mechanismen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MISSION EN ENFER
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Frédéric Gonseth Prod./TSR/Akmaz Film-
Regie
Frédéric Gonseth · Catherine Azad
Buch
Frédéric Gonseth
Kamera
Frédéric Gonseth
Musik
Michel Hostettler
Schnitt
Catherine Azad
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Das Verdrängen unliebsamer historischer Erinnerungen ist keine deutsche Spezialität, wie dieser außerordentliche Dokumentarfilm vor Augen führt, der ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte dem Vergessen entreißt. Es geht um eine seltsame „Hilfsaktion“ des Schweizer Roten Kreuzes, das zwischen Oktober 1941 und März 1943 vier Ärzte-Missionen an die Ostfront nach Smolensk, Warschau, Riga und Donetsk entsandte. Obwohl die 250 Chirurgen, Krankenschwestern und Pfleger auf strikte Neutralität eingeschworen waren, versorgten sie in den Frontlazaretten ausschließlich deutsche Landser. Kontakt mit russischen Kriegsgefangenen war streng verboten, alle Korrespondenz unterlag der Zensur. Als die ersten Heimkehrer von den Verbrechen der Wehrmacht und den grauenhaften Zuständen im Warschauer Ghetto berichteten, dementierte der Schweizer Bundesrat öffentlich und verpflichtete das gesamte Corps zum Schweigen; wenige Monate später, im Sommer 1942, wurden die Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen. Über die Hintergründe dieser informellen Allianz mit den Nazis spekuliert der Film nur am Rande; neben guten Beziehungen mächtiger Schweizer Finanziers und Politiker zum NS-Staat wird vor allem die Angst vor einer Invasion der Deutschen benannt, die man mit solchen Aktionen besänftigen wollte. Freilich hielt sich nicht jeder an das aufoktroyierte Schweigegebot; einer von ihnen, Rudolf Bucher, erreichte mit Vorträgen und Lichtbildern nach eigenen Angaben sogar 150.000 Schweizer; doch Staat wie Öffentlichkeit klammerten sich bis in die Gegenwart stoisch an ihre Neutralitätsfiktion, und selbst die alt gewordenen Missionsmitglieder müssen 60 Jahre nach den Ereignissen tief in ihren Truhen kramen, um die grauenvollen Umstände ins Bewusstsein zu rufen.

Glücklicherweise ist Frédéric Gonseth primär nicht am politischen Skandal oder an investigativen Meriten interessiert, sondern weiß mit dem erdrückenden Material und den historischen Fakten sensibel umzugehen. Mit beispielhafter Reflektiertheit verknüpft er Gegenwart, historische Dokumente, Erzählungen und die Fakten der Geschichtsschreibung zu einer schmerzhaften Reise in die Vergangenheit, die noch lange nicht in die Historie entschwunden ist. So lässt er dem Zuschauer Zeit, sich mit den noch lebenden Protagonisten auf den langen Weg in den Osten zu machen, der von Bern aus mit der ratternden Eisenbahn ins Land von Tolstoj und Dostojewski führt, das viele der idealistisch gesinnten Mediziner literarisch verehrten. Schritt für Schritt erweckt der Film Tagebuchaufzeichnungen und Fotografien zum Leben und wechselt zwischen erinnerter Vergangenheit und erlebter Gegenwart so geschickt hin und her, als käme man dem dumpfen Donner der Front wirklich mit jedem Kilometer näher. Doch die sich schnell mehrenden Zeichen, dass die Hilfsaktion zur grauenvollen „Fahrt in die Hölle“ wird, sind nichts im Vergleich zu dem, was in den Lazaretten auf sie wartet: grässlich entstellte Verletzte, pausenlose Amputationen, Blut und Eiter, das Sterben junger Soldaten, die nach ihren Müttern schreien, Not, Kälte und das namenlose Elend verwüsteter Städte und Landstriche.

Als die deutsche Kriegsmaschinerie im Winter 1941 vor Moskau zum Erliegen kommt, liegen 200.000 Landser unter der gefrorenen russischen Erde. Für die zwei Millionen verhungerter und erfrorener russischer Kriegsgefangener bleibt hingegen meist nur eine Decke aus Schnee und Eis, wenn ihre ausgezehrten Leichname nicht schon vorher von Kameraden zerrissen werden, die Herz und Leber essen. Schon auf der Fahrt in den Osten waren die Schweizer an kilometerlangen Viehwaggons vorbeigekommen, in denen gefangene russische Soldaten wie Vieh zusammengepfercht wurden; vor Ort begegneten ihnen apathische Trecks mit Tausenden zerlumpter Gestalten, die von einer Handvoll deutscher Soldaten durch die endlose Weite getrieben wurden, gesäumt von Toten, die einfach am Straßenrand liegen blieben. Alles das wird minutiös und fast mit naturwissenschaftlicher Distanz in Schweizer Tagebüchern notiert, ohne dass die Beobachter die barbarischen Dimensionen des deutschen Vernichtungskrieges hätten ermessen können, in dem, wie der Historiker Christoph Streit erwähnt, der Hungertod der russischen Kriegsgefangenen bewusst in Kauf genommen, wenn nicht sogar intendiert wurde; erst im Frühjahr 1942 änderte sich die Strategie, indem man die Gefangenen zur Zwangsarbeit nach Deutschland transportierte.

Auch die Zustände im Warschauer Ghetto entgingen den Augen der humanitären Missionäre nicht, ebenso wenig wie die Verfolgung und Ermordung der Juden in Riga. Doch ihre Berichte und heimlich aufgenommenen Fotografien, die sie an die Schweizer Behörden weiter reichten, wurden unter Verschluss gehalten; wer sich wie Bucher der Schweigeverpflichtung widersetzte, erfuhr Repressalien. Der Druck von Regierung und dem Roten Kreuz war offensichtlich erfolgreich; mancher der interviewten Zeitzeugen vermag selbst jetzt nur zögernd der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Auf die Frage, warum sie ihr Leben lang nicht einmal den Versuch unternommen hätten, ihre sorgfältig verpackten Notizen und Erinnerungen öffentlich zu machen, antwortet beredtes Schweigen. Dass „Mission des Grauens“ damit endet, hinterlässt eine Leere und Unruhe, die man nicht dem Film anlasten sollte. Vielmehr würde es gelten, die mustergültige Begegnung mit den historischen Ungeheuerlichkeiten aufzugreifen und die Mechanismen näher zu eruieren, auf die der Film verweist: auf die psychologischen und soziokulturellen, aber auch auf die ökonomischen Strukturen, die damals wie heute das konkrete Verhalten lenken.

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