Literaturverfilmung | USA 2005 | 96 Minuten

Regie: Mike Mills

Ein 17-jähriger Schüler lutscht zum Leidwesen seiner Eltern noch immer am Daumen, verursacht enorme kieferorthopädische Kosten und verschleißt seinen Therapeuten, bevor er durch die Liebe zu einem Mädchen in eine relativ normale Zukunft einsteigt. Die von Alltagsimpressionen geprägte Roman-Adaption widersteht der Versuchung, die überschaubare Geschichte aufzubauschen. Sie findet vielmehr stets eine sichere Erdung, um die Charaktere glaubwürdig darzustellen. Dabei verweigert sich der Erstlingsfilm konsequent jeder psychologischen Schuldzuweisung. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THUMBSUCKER
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Scared Little Animals/Bull's Eye Ent./Good Machine/Keep Your Head/This is That Prod.
Regie
Mike Mills
Buch
Mike Mills
Kamera
Joaquín Baca-Asay
Musik
Tim DeLaughter
Schnitt
Haines Hall · Angus Wall
Darsteller
Lou Taylor Pucci (Justin Cobb) · Tilda Swinton (Audrey Cobb) · Vincent D'Onofrio (Mike Cobb) · Kelli Garner (Rebecca) · Keanu Reeves (Dr. Perry Lyman)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Literaturverfilmung | Tragikomödie
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Splendid (1:2,35/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Das Hinterhältige am Erwachsenwerden ist, dass man sich nicht dagegen wehren kann. Irgendwann ist für jeden die Schule aus, und je näher dieser Zeitpunkt rückt, desto inniger hält mancher an alten Gewohnheiten aus der Kindheit fest. Vermutlich ist der 17-jährige Justin Cobb deshalb gar nicht so verschieden von seinen gleichaltrigen Mitschülern – bis auf die Tatsache, dass er immer noch am Daumen lutscht. Seinen Eltern beschert er damit nicht nur üppige Rechnungen seines Kieferorthopäden, sondern auch regelmäßige Streitereien darüber, wie sie ihn von seiner Vorliebe entwöhnen sollen. Wirklich helfen, das macht Mike Mills in seinem Spielfilmdebüt rasch klar, können sie Justin ohnehin nicht. Dazu sind beide viel zu sehr in ihrer eigenen Welt gefangen, und dazu ist der Weltschmerz ihres Sohnes vor allem viel zu unbestimmt. Trotz der motivischen Anklänge hat Justin Cobb wenig mit dem deutschen Verwandten aus dem Struwwelpeter zu tun. „Thumbsucker“ ist vielmehr eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die im Nährboden der amerikanischen Provinz eine mitunter leicht surreal wirkende Komik entwickelt. Es geht um die erste Liebe, die Abnabelung vom Elternhaus und die Furcht, mit beidem vielleicht nicht klar zu kommen. Dabei hat es etwas Rührendes, wie der linkische Justin um die Gunst einer Mitschülerin wirbt und sich dafür einem Debattierclub anschließt, für dessen Anforderungen er am allerwenigsten geeignet scheint. Das ändert sich, als er die Wunderdroge Ritalin verschrieben bekommt und nach einer chemischen Kettenreaktion als neuer Mensch erwacht. Aus dem schüchternen Jungen ist ein brillanter Rhetoriker geworden, der in schulischen Wettbewerben jeden Gegner an die Wand redet und vor lauter Zielstrebigkeit manische Züge zeigt. Gerade noch rechtzeitig vor dem drohenden Zusammenbruch setzt er das Medikament ab, um sich der therapeutischen Wirkung scheuer Mädchenküsse zuzuwenden. Obwohl Mills bereits eine Karriere als Regisseur gefeierter Musikvideos und Kurzfilme hinter sich hat, überrascht die Sicherheit, mit der er Walter Kirns Roman für die Leinwand adaptierte. In seinen immer ein wenig überzeichneten Alltagsimpressionen manövriert er sich geschickt zwischen den Untiefen des Genres hindurch, vermeidet die schrille Satire ebenso wie das rührselige Melodram, um im sicheren Hafen glaubwürdiger Charaktere und überschaubarer Konflikte einzulaufen. Als Verfechter der selten gewordenen Tugend des Understatements spielt Mills insbesondere die familiäre Zerreißprobe herunter. Während Justins Vater seiner verpassten Karriere als Footballprofi hinterher zu trauern scheint, träumt seine Mutter davon, mit einem geschniegelten Seriendarsteller durchzubrennen. Leicht hätte man aus den Cobbs sterile Stepford-Eltern machen können, deren Selbstbezüglichkeit jede Kindheitsneurose entschuldigt. Stattdessen führt Mills seinen Protagonisten zu der behutsam vorbereiteten Erkenntnis, dass seine Eltern zwar häufiger aneinander vorbeireden, als ihnen bewusst ist, letztlich aber keine so schlechten Vorbilder sind. Im Grunde ist „Thumbsucker“ ein Film der gegenseitigen Verkennung, die sich langsam in Verständnis wandelt. Dass Justin dabei mit seinem Kieferorthopäden und dem Debattierlehrer gleich zwei Ersatzväter verschleißt, gibt zwei Stars Gelegenheit, in Nebenrollen zu glänzen, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Keanu Reeves und Vince Vaughn füllen nacheinander die Leerstelle aus, die Vincent D’Onofrio als Justins Vater zunächst offen lässt, um seine beinahe marginale Rolle schließlich zum pathetischen Zentrum des Films zu machen. Als Justin die Familie verlässt, um nach New York zu gehen, spricht sein Vater einen traurigen Satz, der gerade in seiner Hilflosigkeit alles über ihre Beziehung zueinander sagt: „Ich hatte mich doch gerade erst an dich gewöhnt.“
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