Road Movie | Frankreich 2004 | 103 Minuten

Regie: Tony Gatlif

Ein junges Paar algerischer Abstammung verlässt einen Pariser Vorort, um über Spanien und Marokko in seine frühere Heimat zu gelangen. Die Reise konfrontiert die beiden mit Tagelöhnern, Entwurzelten und Heimatlosen, die auf der Suche nach dem Paradies ihr Ziel aus den Augen verloren haben. Der Film beschreibt eine umgekehrte Migrationsbewegung von Nord nach Süd, die die Protagonisten ihre Fremdheit zwischen den Kulturen erfahren lässt. In der romantischen Verklärung des ungebundenen Lebens vereinfacht der dokumentarisch angelegte Film zwar, fesselt aber durch suggestive Bilder und einen vibrierenden Rhythmus, die die Verlorenheit der Menschen mythisch überhöhen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EXILS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Princes Films
Regie
Tony Gatlif
Buch
Tony Gatlif
Kamera
Céline Bozon
Musik
Tony Gatlif · Delphine Mantoulet
Schnitt
Monique Dartonne
Darsteller
Romain Duris (Zano) · Lubna Azabal (Naima) · Leila Makhlouf (Leila) · Habib Cheik (Habib) · Zouhir Gacem (Said)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Road Movie

Diskussion
Tony Gatlifs neues berauschendes Road Movie kommt gleich in der ersten Einstellung auf den Punkt: Während eine wütende Frauenstimme im Sprechgesang die Abwesenheit der Demokratie beklagt, fixiert die Kamera den muskulösen Männerrücken von Frankreichs neuem Star Romain Duris in Großaufnahme, fährt langsam zurück und gibt den Blick frei auf eine Durchfahrtsstraße inmitten einer abweisend lärmenden Plattenbausiedlung. Dann lässt sich Gatlif Zeit, seine erzählerische Linie zu finden, vom zivilisatorischen Schock der Großstadt blendet er über zu der menschenleeren Natur der Provence, um seinen entwurzelten jungen Bohemiens auf ihrer Reise zurück zum Ursprung zu folgen. „Ich bin eine Fremde, überall“, sagt Naima von sich, als sie nach Jahren des Exils wieder in Algerien, dem Land ihrer Geburt ankommt. Die aufdringlichen Blicke der Männer verunsichern sie, die Angriffe der Frauen wegen ihrer freizügigen Kleidung machen sie fassungslos. Verkleidet mit Kopftuch und langem Mantel irrt sie durch das vom Erdbeben erschütterte Algier, wütend und ängstlich. Dabei wollte sie nie wieder dorthin zurück, wo man ihr körperliche und physische Wunden zugefügt hat. Es war ihr Freund Zano, der aus einer Laune und diffusen Sehnsucht heraus beschloss, zum ersten Mal in die Heimat seiner lange verstorbenen Eltern aufzubrechen, die das Land aus politischen Gründen verlassen mussten. Die Reise von den tristen Plattenbauten der Pariser Vororte über Sevilla und Marokko inszeniert der französisch-algerische Regisseur Tony Gatlif gänzlich unspektakulär, nur die vitale Musik zwischen Techno und Ethno Pop schafft Kontrapunkte der Ausgelassenheit und Abenteuerlust. Als Schwarzfahrer im Zug ist das Paar stets auf dem Absprung, unterwegs zu Fuß, im Regen, und nicht selten auf die Hilfe anderer angewiesen, die mitunter hilfsbedürftiger sind als sie selbst: Heimatlose, Entwurzelte, illegale Migranten aus dem Maghreb, fast noch Kinder, die sich auf spanischen Plantagen für Hungerlöhne verdingen, um weiter 'gen Europa vordringen zu können; Zigeuner-Familien, die auf der Straße von der Hand in den Mund leben, frühzeitig gealterte Schlepper, die sie über die Grenze nach Algerien schmuggeln. Gerade weil Gatlif diese gegensätzlichen Fluchtbewegungen ins Ungewisse eines vermeintlichen Paradieses und zurück zu den Wurzeln unsentimental und sachlich registriert, stimmt die verzweifelt gelebte Sinnlichkeit des verliebten Pärchens umso melancholischer: Zano und Naima streiten und betrügen sich, haben Sex in glühender Hitze unter Apfelsinenbäumen, baden halb nackt in öffentlichen Brunnenbecken und tanzen im Freien wie Naturkinder oder zumindest verspätete Hippies. Trotz solcher romantischen Verklärung eines ungebundenen Lebens ist „Exil“, 2004 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet, ein schlichter, dokumentarisch angelegter Film, aber von so ungeheurer Intensität, wie man sie in diesen Tagen selten im Kino erlebt. Vielleicht liegt das daran, dass der Regisseur weiß, wovon er erzählt. In den 1960er-Jahren mit seiner Familie ausgewandert, soll er 43 Jahre gebraucht haben, bis er sich in sein Geburtsland Algerien zurück wagte. Wie seine überaus mobilen Helden in „Latcho Drom“ (1993) und „Gadjo Dilo“ (fd 33 283) verschlug es ihn dabei zuerst nach Andalusien, dem Land des Flamenco, dem auch in „Exil“ mit impulsiv-emotionalen Tanzaufnahmen in schwülen Bars gehuldigt wird. Je näher das Paar seinem Ziel kommt, desto fremdartiger klingt der Soundtrack. In Algier erwartet beide ein schmerzhaftes Reinigungsritual. Zano bricht in der Wohnung seiner Eltern in ekstatisches Schluchzen aus, als er von den neuen Bewohnern eine Schachtel mit Fotos seiner Familie ausgehändigt bekommt. Naima, die als Kind wahrscheinlich vergewaltigt wurde und den Schmerz darüber hinter übertriebener Exaltiertheit verbarg, entledigt sich ihres Traumas während einer spirituellen Tanzzeremonie im Kreise anderer gebrochener Frauen. Die tranceähnliche Feier zeigt Gatlif in realer Länge und schafft damit eine ungewöhnliche Kinosituation, bei der sich die Grenzen des Raums aufzulösen scheinen – was sich nicht nur der rhythmisch und motivisch monotonen Musik verdankt, sondern auch der herausragenden Kameraarbeit von Céline Bozon. Sie findet noch nie gesehene, suggestive Bilder, die Alltagsgegenständen eine abstrakte Bedeutung zuweisen oder die Verlorenheit der Figuren metaphysisch überhöhen. Dank ihr und dem mehr als überzeugenden Spiel von Duris und Lubna Azabal, die schon in André Téchinés „Weit weg“ (fd 35 587) glänzte, ist „Exil“ ein hoch aktueller und berührender Film geworden, der zwar auf sehr schwierige Fragen sehr einfache Antworten findet, dabei aber stets der besonderen Befindlichkeit seiner Figuren gerecht wird, ohne die Last ihres Daseins zwischen den Kulturen auszublenden.
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